Weitere Verhaftung im Kobanê-Prozess

Die ehemalige HDP-Politikerin Zeynep Karaman ist in Edirne festgenommen und als Angeklagte im sogenannten Kobanê-Prozess per Video in die laufende Verhandlung in Ankara zugeschaltet worden. Das Gericht erließ einen Haftbefehl.

Mit Zeynep Karaman ist eine weitere Angeklagte im Kobanê-Prozess verhaftet worden. Das ehemalige Vorstandsmitglied der HDP war zur Fahndung ausgeschrieben und wurde in Edirne in der Westtürkei festgenommen. Aus dem dortigen Justizgebäude wurde Karaman über eine Videoübertragung in die laufende Verhandlung in Ankara eingebunden. Der vorsitzende Richter verlas Aussagen des anonym gehaltenen Zeugen „Ulaş“ und eines weiteren Zeugen über die ehemalige HDP-Politikerin. Die Angeklagte erklärte daraufhin, sich erst nach Rücksprache mit ihrem Rechtsbeistand zu äußern, es handele sich um ein politisches Verfahren.

Ihre Verteidigerin Maviş Aydın wies darauf hin, dass sich ihre Mandantin in schlechtem Gesundheitszustand befinde. Die Anklage basiere auf Aussagen zweifelhafter Zeugen und einer ANF-Meldung darüber, dass Karaman in einen Hungerstreik getreten sei. Die Beweislage rechtfertige keinen Haftbefehl, erklärte die Rechtsanwältin und forderte die Freilassung ihrer Mandantin.

Das Gericht ignorierte die Einwände der Verteidigung und erließ einen Haftbefehl wegen Separatismus-Vorwürfen. Zeynep Karaman soll aus Edirne in den Gefängniskomplex Sincan überführt werden. Der Prozess wird am Donnerstag fortgesetzt.

Zeynep Karaman, HDP-Politikerin und langjährige Aktivistin der Frauenbewegung (Archivbild)

Hintergrund: Angeklagt wegen Kobanê-Solidarität

Angeklagt im sogenannten Kobanê-Verfahren von Ankara sind 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Allein für den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş fordert die Generalstaatsanwaltschaft bis zu 15.000 utopische Jahre Gefängnis. Mit Zeynep Karaman befinden sich 22 der Angeklagten in Untersuchungshaft.

Auslöser des Kobanê-Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Westkurdistan auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”

Dutzende Tote, hunderte Verletzte

Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um HDP-Anhänder:innen handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung macht die HDP für die Vorfälle verantwortlich.

EGMR wertet Aufruf als politische Rede

Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme keine Beweise vor. Im Dezember stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP.

ANF-Artikel als Beweismittel der Anklage

Als Beweismittel werden in der 3530 Seiten langen Anklageschrift unter anderem ANF-Artikel über die politischen Aktivitäten der Beschuldigten sowie ihre Äußerungen und Interviews herangezogen. Insgesamt sind 413 Seiten unserer Berichterstattung gewidmet worden. Weitere 62 Seiten behandeln die „Strukturen von PKK/KCK“, auf deren Anweisung Selahattin Demirtaş nach Auffassung des Oberstaatsanwalts mehrere Erklärungen abgegeben haben soll, unter anderem nach einem Besuch in Kobanê am 30. September 2014.

Die Angeklagten im Kobanê-Prozess

Bei den 108 Angeklagten handelt es sich um Figen YüksekdağSebahat TuncelSelahattin DemirtaşSelma IrmakSırrı Süreyya ÖnderGülfer AkkayaGülser YıldırımGültan KışanakAhmet TürkAli ÜrkütAlp Altınörs, Altan Tan, Ayhan Bilgen, Nazmi Gür, Ayla Akat AtaAysel TuğlukIbrahim Binici, Ayşe Yağcı, Nezir Çakan, Pervin Oduncu, Meryem Adıbelli, Mesut Bağcık, Bircan Yorulmaz, Bülent Barmaksız, Can Memiş, Cihan Erdal, Berfin Özgü Köse, Günay Kubilay, Dilek Yağlı, Emine AynaEmine Beyza ÜstünMehmet Hatip DicleErtuğrul Kürkçü, Yurdusev Özsökmenler, Arife Köse, Ayfer Kordu (Besê Erzincan), Aynur Aşan, Ayşe Tonğuç, Azime Yılmaz, Bayram Yılmaz, Bergüzar Dumlu, Cemil Bayık, Ceylan Bağrıyanık, Cihan Ekin, Demir ÇelikDuran Kalkan, Elif Yıldırım, Emine Tekas, Emine Temel, Emrullah Cin, Engin Karaaslan, Enver Güngör, Ercan Arslan, Fatma Şenpınar, Fehman Huseyn (Bahoz Erdal), Ferhat Aksu, Filis Arslan, Filiz Duman, Gönül Tepe, Gülseren Törün, Gülten Alataş, Gülüşan Eksen, Gülüzar Tural, Güzel Imecik, Hacire Ateş, Hatice Altınışık, Hülya Oran (Besê Hozat), Ismail Özden (Zekî Şengalî, am 15. August 2018 in Şengal bei einem gezielten Angriff der türkischen Luftwaffe ums Leben gekommen), Ismail Şengül, Kamuran Yüksek, Layika Gültekin, Leyla Söğüt Aydeniz, Mahmut Dora, Mazhar Öztürk, Mazlum Tekdağ (am 1. Oktober 2019 bei einem türkischen Luftangriff in den Medya-Verteidigungsgebieten gefallen), Abdulselam Demirkıran, Mehmet Taş, Mehmet Tören, Menafi Bayazit, Mizgin Arı, Murat KarayılanMustafa Karasu, Muzaffer Ayata, Nazlı Taşpınar (Emine Erciyes), Neşe Baltaş, Nihal Ay, Nuriye Kesbir (Sozdar Avesta), Remzi KartalRıza Altun, Ruken Karagöz, Sabiha Onar, Sabri Ok, Salih AkdoğanSalih Muslim, Salman Kurtulan, Sara AktaşSibel Akdeniz, Şenay Oruç, Ünal Ahmet Çelen, Yahya Figan, Yasemin Becerekli, Yusuf Koyuncu, Yüksel Baran, Zeki Çelik, Zeynep Karaman, Zeynep Ölbeci und Zübeyir Aydar.