Der in der Türkei inhaftierte frühere Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, ist wegen Präsidentenbeleidigung zu einer Freiheitsstrafe in Höhe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Hintergrund sind kritische Äußerungen des Politikers bezüglich des Verhaltens der AKP-Regierung nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe. Das Flugzeug war am 24. November 2015 im syrischen Grenzgebiet abgeschossen worden. Daraufhin hatte Moskau weitreichende Strafmaßnahmen gegen Ankara erlassen, die unter anderem einen Importstopp für türkische Waren, Arbeitsverbote und Sanktionen gegen die Tourismusbranche beinhalteten. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan weigerte sich damals zunächst, sich für den Abschuss bei Russland zu entschuldigen. Das Urteil des Strafgerichts in Ankara ist noch nicht rechtskräftig. Es handelte sich nur um eines unter vielen Verfahren gegen Demirtaş wegen vermeintlicher Präsidentenbeleidigung.
Hintergrund der Vorwürfe
Am 23. Dezember 2015 reiste Demirtaş mit einer HDP-Abordnung nach Moskau, um Gespräche mit Außenminister Sergej Lawrow zu führen. Das Treffen war lange im Voraus geplant, inhaltlich ging es unter anderem um den Kampf der Kurdinnen und Kurden gegen die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) in Syrien und im Irak. Den Abschuss des russischen Kampfjets durch die türkische Armee bezeichnete Demirtaş dabei als Fehler. „Wir haben offen miteinander gesprochen und das Vorgehen der Regierung beim Abschuss des russischen Jets verurteilt”, erklärte der HDP-Politiker nach dem Gespräch mit Lawrow.
Türkei empört über Moskau-Reise
Die Regierung des damaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu hatte die Moskau-Reise der HDP-Abordnung scharf kritisiert. Demirtaş baue die Zusammenarbeit mit jenen aus, mit denen die Türkei Probleme habe, hieß es. Außerdem würden die Kurden in der Türkei wie in Syrien die „russische Karte“ nutzen, um ihre Interessen durchzusetzen. Das sei Verrat, meinte Davutoğlu. Die Verurteilung des 47-Jährigen gründet auf die vermeintliche Beleidigung sowohl Erdoğans als auch seines damaligen Ministerpräsidenten. Demirtaş war dem Verfahren aus dem Hochsicherheitsgefängnis Edirne per Video zugeschaltet worden und kritisierte das Urteil. Er sagte, es sei die Pflicht einer demokratischen Gesellschaft, die Regierung zu kritisieren.
Russisch-Türkischer Konflikt wegen Fehlverhalten der AKP
Bei seiner Ankunft am Flughafen in Ankara äußerte der kurdische Politiker am 24. Dezember 2015 gegenüber der Presse, dass der zwischen Russland und der Türkei nach dem Jet-Abschuss eskalierte Konflikt auf das Fehlverhalten der AKP-Regierung zurückzuführen und dadurch die Existenz von Millionen von Menschen gefährdet sei. „Diese alte Leier vom angeblichen Verrat gegen das Land nimmt euch niemand ab“, sagte Demirtaş mit Blick nach Ankara. „Dadurch könnt ihr eure Fehler nicht verbergen. Mit großen Worten wollt ihr von eurem eigenen Verrat ablenken, von eurem Raub und der Ausplünderung dieses Landes.“ Zudem warf der Politiker der AKP „Untätigkeit“ vor. Etlichen Menschen, Arbeitern, Studierenden und Firmen sei durch die von der Türkei provozierten Sanktionen Russlands der Boden unter den Füßen weggezogen worden. „Und was tut die Regierung? Nichts!“, sagte Demirtaş. Als Antwort auf den Abschuss hatte Moskau auch den visafreien Reiseverkehr einseitig aufgehoben. Der Schritt traf zwar in erster Linie die türkische Tourismusbranche hart, da jährlich etwa vier Millionen Russen in die Türkei reisen. Aber auch Auslandsstudierende, Fachkräfte mit Arbeitserlaubnis und Import-Export-Firmen gerieten in Not.
Hauptverfahren: Anklage fordert bis zu 142 Jahre Haft
Selahattin Demirtaş, der von Beruf Rechtsanwalt ist und vor seiner Zeit als aktiver Politiker lange Jahre in Amed (tr. Diyarbakir) den Menschenrechtsverein IHD leitete, sitzt seit dem 4. November 2016 im Gefängnis. Er wurde zusammen mit neun weiteren HDP-Abgeordneten, darunter der früheren Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ, verhaftet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm im Hauptverfahren unter anderem Gründung und Führung einer Terrororganisation, Terrorpropaganda und Volksverhetzung vor. Die Anklage baut auf 31 Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während seiner Zeit als Abgeordneter zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren. Bei einer Verurteilung drohen Demirtaş bis zu 142 Jahre Haft. Der Prozess soll am 14. April fortgesetzt werden.
Im Verfahren um die Proteste vom Oktober 2014 gegen die türkische Unterstützung für die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) beim Überfall auf die Stadt Kobanê in Rojava wird Demirtaş unter anderem 37-facher Mord vorgeworfen. Der Prozess wird am 25. April eröffnet.