Demirtaş: Meine Heimat ist Kurdistan

In Ankara ist das Hauptverfahren gegen Selahattin Demirtaş fortgesetzt worden. Der kurdische Politiker warf dem Gericht vor, von politischen Vorgaben aus dem Justizpalast geleitet zu werden und forderte die Richter auf, wegen Befangenheit zurückzutreten.

In Ankara ist am Dienstag das Hauptverfahren gegen Selahattin Demirtaş fortgesetzt worden. Der kurdische Politiker, der seit über vier Jahren in politischer Geiselhaft im Hochsicherheitsgefängnis Edirne einsitzt, nutzte die Gelegenheit, kräftig auszuteilen. Über eine Videoliveschaltung erklärte der ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, dass das Gericht von politischen Vorgaben aus dem Justizpalast geleitet werde, und forderte die Richter auf, wegen Befangenheit zurückzutreten. Durch seine Verhaftung und andauernde Untersuchungshaft hätte das Gericht die Wiederwahl Recep Tayyip Erdoğans zum Präsidenten unterstützt. „Damit haben Sie sich in eine Wahl eingemischt und in den Willen der Nationalversammlung eingegriffen. Sie haben sich zu Komplizen der Regierung gemacht und dabei geholfen, das System zu ändern. Sie haben zum Aufbau des Ein-Mann-Regimes und der Diktatur beigetragen.“ Zudem sei das Gericht der Argumentation der Regierung gefolgt, als es sich weigerte, der Forderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR) nachzukommen, so Demirtaş.

Richter weigern sich, EGMR-Urteil ins Verhandlungsprotokoll einzutragen

Im Gerichtsgebäude auf dem Gefängniscampus Sincan wurde der 47-Jährige von Benan Molu, Ramazan Demir und Mahsuni Karaman vertreten. Direkt zu Verhandlungsbeginn entzündete sich ein heftiges Scharmützel, da die Richter sich weigerten, das Urteil der Großen Kammer des EGMR zu Demirtaş zu protokollieren und zur Gerichtsakte zu reichen. Der EGMR hatte am 22. Dezember 2020 die sofortige Freilassung des Politikers aus der Haft angeordnet und ihm zudem Schadensersatz zugesprochen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Freiheit und Sicherheit seien verletzt worden, die Inhaftierung während des Referendums für das Präsidialsystem in der Türkei 2017 und der Präsidentschaftswahlen im Jahr darauf hätte den konkreten Zweck gehabt, Pluralismus zu unterdrücken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken, erklärte der EGMR in seinem Urteil. Schon 2018 hatte das Straßburger Gericht die Freilassung Demirtaşs angeordnet, weil die lange Untersuchungshaft ungerechtfertigt sei. Die Türkei setzte das Urteil aber nicht um, deshalb landete der Fall vor der Großen Kammer des EGMR als höchster Instanz des Gerichts. Doch auch dieses Urteil wird von der türkischen Regierung ignoriert. Erdoğan hatte gesagt, er fühle sich an die Entscheidung genauso wenig gebunden wie an ein Urteil des türkischen Verfassungsgerichts, das vergangenen Juni die Inhaftierung von Demirtaş als rechtswidrig eingestuft hatte.

Demirtaş-Anwälte Mahsuni Karaman, Benan Molu und Ramazan Demir (v.l.n.r.), September 2019

Gericht tut so, als gäbe es Straßburger Entscheidung gar nicht

„Das Gericht kann nicht so tun, als gäbe es die Entscheidung des Verfassungsgerichts oder das EGMR-Urteil gar nicht. Ich mahne Sie dringend, sich an die Gesetze zu halten und fair zu handeln. Tun Sie es nicht, führen Sie dieses Land unfreiwillig zum Zusammenbruch. Es geht hier nicht um meine Person, als Politiker vor diesem Gericht gebe ich nur ein symbolisches Beispiel ab. Aber eine falsche Entscheidung von Ihnen wird die politische und justizielle Zusammenarbeit beschmutzen, die Justiz der Exekutive unterwerfen, der Wirtschaft einen vernichtenden Schlag versetzen, die Polarisierung im Land vertiefen und das Bandentum innerhalb des Staates stärken. Die Aktivitäten illegitimer Machtstrukturen, Korruption und Bestechung werden florieren und die Rechenschaftspflicht der Exekutive sowie staatlichen Institutionen gegenüber der Justiz wird unmöglich erscheinen. Es ist offensichtlich, dass das Gericht sich am Nationalismus orientiert und entsprechend handelt. Sie alle sind Nationalisten, das weiß ich. Ich bin es nicht. Ich bin Kurde, meine Heimat ist Kurdistan. Ich bin Staatsbürger der Türkei. Das sind die Identitäten, die sich in mir vereinen. Mit Formulierungen wie solchen, dass meine Nation oder Rasse die eines anderen ‚überlegen‘ sei, kann ich nichts anfangen. Ich sage auch nicht, dass ein Kurde einen Jupiter wert sei (in Anlehnung an das türkische Sprichwort: „Ein Türke ist die Welt wert“, ANF). Aber Sie alle sind Nationalisten. Steht Ihr Handeln tatsächlich für die Liebe zur Nation? Mitnichten. Sie haben einen schweren Fehler begangen und der Türkei damit einen großen Schaden zugefügt. Damit meine ich nicht nur die drei Richter dieses Gerichts. Aber Sie haben mit ihren judikativen Aktivitäten erheblich dazu beigetragen. Die Gerechtigkeit ist nicht mehr länger das Fundament des Eigentums (türkische Variante von „Justitia fundamentum regnorum“, ANF), da Eigentum und Staat de facto nicht existent sind. Die Exekutive hat alles beschlagnahmt. Gäbe es bei Ihnen eine faire Haltung meinem Fall gegenüber, könnten Sie die Hoffnung auf eine unabhängige Justiz in der Türkei verteidigen. Sie haben sich dagegen entschieden. Für das Unrecht, das meinen Freundinnen und Freunden und mir angetan wird, werde ich Rechenschaft einfordern. Darauf können Sie vertrauen“, erklärte Demirtaş.

Verfahren wird im April fortgesetzt

Die Verhandlung blieb faktisch ergebnislos, weil die Richter sich darauf beschränkten, die Anklagepunkte gegen den Politiker zu verlesen. Die Kammer ordnete an, den 22. Schwurgerichtshof Ankara anzuschreiben, um die Anklageschrift aus dem „Kobanê-Verfahren“ in die Akte aufzunehmen. Außerdem wurde beschlossen, vom Justizministerium eine Übersetzung des EGMR-Urteils zu Demirtaş einzuholen. Darüber hinaus wolle das Gericht über einen Befangenheitsantrag der Verteidigung des Politikers entscheiden – als abgelehnte Richter dürfen sie selbst entscheiden. Zu einer für den heutigen Mittwoch geplanten weiteren Verhandlung wird es nicht kommen. Der nächste Prozesstermin ist für den 14. April angesetzt worden.

Anklage fordert bis zu 142 Jahre Haft

Selahattin Demirtaş, der von Beruf Rechtsanwalt ist und vor seiner Zeit als aktiver Politiker lange Jahre in Amed (tr. Diyarbakir) den Menschenrechtsverein IHD leitete, sitzt seit dem 4. November 2016 im Gefängnis. Er wurde zusammen mit neun weiteren HDP-Abgeordneten, darunter der früheren Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ, verhaftet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm im Hauptverfahren unter anderem Gründung und Führung einer Terrororganisation, Terrorpropaganda und Volksverhetzung vor. Die Anklage baut auf 31 Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während seiner Zeit als Abgeordneter zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren. Bei einer Verurteilung drohen Demirtaş bis zu 142 Jahre Haft. Im Verfahren um die Proteste vom Oktober 2014 gegen die türkische Unterstützung für die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) beim Überfall auf die Stadt Kobanê in Rojava wird Demirtaş unter anderem 37-facher Mord vorgeworfen.