Von JITEM ermordeter HEP-Politiker
Die Istanbuler Initiative der Samstagsmütter hat bei ihrer 1058. Mahnwache gegen das „Verschwindenlassen“ in staatlichem Gewahrsam ein Ende der Straflosigkeit im Fall Vedat Aydın gefordert. Der kurdische Politiker und Menschenrechtler wurde heute vor 34 Jahren von Todesschwadronen des türkischen Staates ermordet. Zur Rechenschaft gezogen wurde niemand, obwohl die Täter bekannt sind. „Bis heute wurde keine wirksame, unabhängige und unparteiische Untersuchung eingeleitet“, kritisierte die Menschenrechtlerin Eren Keskin, die die Mahnwache auf dem Istanbuler Galatasaray-Platz unterstützte. Der türkische Staat sei seiner Verpflichtung zur Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit nicht nachgekommen. „Beenden Sie die Leugnung und Straflosigkeit im Fall Vedat Aydın. Setzen Sie das Recht in Kraft. Verfolgen und bestrafen Sie die bekannten Täter und Verantwortlichen“, forderte Keskin.
Literat, Menschenrechtler, Politiker
Vedat Aydın wurde 1953 in Bismîl geboren und hatte in Amed (tr. Diyarbakır) Literatur studiert. 1990 wurde er dort zum Leiter der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD gewählt. Zum Zeitpunkt seiner Ermordung war er zudem der Provinzverbandsvorsitzende der Arbeitspartei des Volkes (HEP), die ihren Schwerpunkt auf die Lösung der kurdischen Frage legte. Die HEP war ein Jahr zuvor von Politiker:innen ins Leben gerufen worden, die für die sozialdemokratische SHP im Parlament saßen und aufgrund ihrer Teilnahme an einer Konferenz des Kurdischen Instituts in Paris zu Menschenrechten und Identität der Kurd:innen aus der Partei verstoßen wurden. Es dauerte nicht lange, bis sich die HEP zu einem bedeutenden politischen Faktor in den kurdischen Gebieten entwickelte – und Anschläge auf ihre Einrichtungen verübt wurden.
Die Aktivistin Ikbal Eren stellte den Fall Vedat Aydın vor
Von dreizehn Kugeln getroffen
Ihr prominentestes Opfer war Vedat Aydın, der zu den Mitbegründer:innen der HEP zählte. Am 5. Juli 1991 wurde der 38-Jährige von drei Männern in Zivil, die sich als Polizisten ausgaben, in seiner Wohnung in Amed festgenommen. Umgehend bemühten sich seine Anwälte um Aufklärung, doch die Behörden leugneten die Festnahme des dreifachen Vaters. Zwei Tage später wurde seine verstümmelte Leiche im 80 Kilometer von Amed entfernten Maden in der Provinz Xarpêt (Elazığ) an einer Landstraße gefunden. Vedat Aydın war von dreizehn Kugeln getroffen worden, acht steckten noch in seinem Körper. Sein Schädel war zertrümmert, ebenso sein linkes Bein. Die Behörden ließen die Leiche umgehend in einem „Grab für namenlose Tote“ in Maden verschwinden. Doch die Recherchen eines aufmerksamen Journalisten, der von einer Vermisstenanzeige der Familie Aydıns erfahren hatte, führten zum entscheidenden Hinweis. Umgehend wurde eine Exhumierung erwirkt.
Blutbad bei Begräbnis
Das Begräbnis von Vedat Aydın am 10. Juli 1991 in Amed entwickelte sich zu einer Massendemonstration. Über 50.000 Menschen aus allen Regionen des Landes waren gekommen, um den Politiker zu verabschieden und gegen seine Ermordung zu protestieren. Doch auch hier sollte sich der türkische Staatsterrorismus in all seinen brutalen Facetten zeigen: Maskierte Todesschwadronen schossen mit scharfer Munition in die Menge und zerstörten mehrere Stockwerke eines Gebäudes, in dem sich unter anderem das IHD-Büro befand, bevor sie gegen die Menschen anstürmten. Hunderte Trauernde stürzten bei den Hevsel-Gärten in einen zehn Meter tiefen Abgrund, andere sprangen freiwillig, um sich zu retten. Wieder hunderte wurden festgenommen und zur Polizei oder Gendarmerie verschleppt, dort folterte man sie mit Schläuchen und Ketten. Währenddessen mussten sie die türkische Nationalhymne singen und rufen: „Glücklich derjenige, der sich Türke nennen darf”. Auch aus Ankara angereiste Parlamentsabgeordnete wurden beinahe zu Tode geprügelt. Nur die wenigsten Verletzten trauten sich in ein Krankenhaus.
23 Tote, über 2.000 Verletzte
Offiziellen Angaben zufolge wurden im Verlauf der Beerdigung von Vedat Aydın acht Menschen getötet. Der IHD und andere Menschenrechtsorganisationen hingegen sprechen von 23 Todesopfern und mehr als 2.000 Verletzten. Das Blutbad markierte einen neuen Höhepunkt in der jahrelangen Unterdrückung der kurdischen Gesellschaft, niemand wurde dafür zur Verantwortung gezogen. Auch der Mord an Vedat Aydın ist ungesühnt. Obwohl die Namen der Polizisten – tatsächlich handelte es sich um Attentäter des informellen Geheimdienstes der Militärpolizei –, die ihn am 5. Juli 1991 festnahmen, bekannt sind – Ali Ozansoy, Fethi Çetin und Aytekin Özen – wurde keiner von ihnen verurteilt. 2021 wurde die Akte Vedat Aydın wegen „Verjährung“ geschlossen. Nach türkischem Recht beträgt die Verjährungsfrist bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, dreißig Jahre. Die Praxis der Straflosigkeit für staatliche Morde an Kurd:innen hat in der Türkei Tradition.