Von all den Verbrechen, die in den Jahren der Militärdiktatur ab 1980 und in den Neunzigern in der Türkei begangen worden sind, ist das „Verschwindenlassen“ von Menschen eine der schlimmsten Ausprägungen des türkischen Staatsterrorismus. Schätzungen gehen von über 17.000 „Verschwundenen“ aus, die in dieser bleiernen Zeit von Todesschwadronen im staatlichen Auftrag entführt, gefoltert und ermordet wurden. Ihre Leichen wurden in der Regel in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt.
„Hab keine Angst, ich kenne die Polizisten“
Die meisten Opfer waren Kurdinnen und Kurden. Oft waren sie von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Der kurdische Politiker Vedat Aydın war einer dieser vielen „Verschwundengelassenen“. Am 5. Juli 1991 wurde er von drei Polizisten in Zivil vor den Augen seiner Ehefrau aus seiner Wohnung in Amed (tr. Diyarbakir) abgeführt. „Hab keine Angst, ich kenne die Polizisten“, soll Aydın ihr noch gesagt haben. „Sonst wäre er niemals mitgegangen“, sagte Şükran Aydın. Ihre Nachfragen beim Polizeipräsidium ergaben jedoch am nächsten Morgen, dass der 38-Jährige nicht unter den registrierten Verhaftungen des Vorabends war. Die Polizei gab an, Angehörige eines speziellen Operationsteams, das dem Amt des Ministerpräsidenten unterstellt sei, hätten die Festnahme durchgeführt.
Literat, IHD-Vorsitzender, HEP-Politiker
Vedat Aydın wurde 1953 in Bismîl geboren und hatte in Amed Literatur studiert. 1990 wurde er dort zum Leiter der Zweigstelle des Menschenrechtsvereins IHD gewählt. Zum Zeitpunkt seines Verschwindens war er zudem der Provinzverbandsvorsitzende der „Arbeitspartei des Volkes“ (HEP), die ihren Schwerpunkt auf die Lösung der kurdischen Frage legte. Die HEP war ein Jahr zuvor von Politikern gegründet worden, die für die Sozialdemokraten von der SHP im Parlament saßen und aufgrund ihrer Teilnahme an einer Konferenz des Kurdischen Instituts in Paris zu Menschenrechten und Identität der Kurdinnen und Kurden aus ihrer Partei verstoßen wurden. Es dauerte nicht lange, bis sich die HEP zu einem bedeutenden politischen Faktor in den kurdischen Gebieten entwickelte – und Anschläge auf ihre Einrichtungen verübt wurden.
Dreizehn Kugeln, zertrümmerter Schädel, gebrochene Beine
Zwei Tage nach der Festnahme von Vedat Aydın tauchte am 7. Juli 1991 seine verstümmelte Leiche im 80 Kilometer von Amed entfernten Maden in der Provinz Xarpêt (Elazığ) auf – neben einer Landstraße. Vedat Aydın war von dreizehn Kugeln getroffen worden, acht steckten noch in seinem Körper. Sein Schädel war zertrümmert, ebenso sein linkes Bein. Seine Familienangehörigen konnten ihn gerade noch identifizieren, aber als Parteifreunde das Begräbnis organisieren wollten, war seine Leiche verschwunden. Wenig später stellte sich heraus, dass die Stadtverwaltung von Maden den charismatischen Politiker bereits begraben hatte. Es wurde eine umgehende Exhumierung erwirkt.
Blutbad bei Begräbnis
Das Begräbnis von Vedat Aydın am 10. Juli 1991 in Amed entwickelte sich zu einer Massendemonstration. Über 50.000 Menschen aus allen Regionen des Landes waren gekommen, um den Politiker zu verabschieden und gegen seine Ermordung zu protestieren. Doch auch hier sollte sich der türkische Staatsterrorismus in all seinen brutalen Facetten zeigen: Maskierte Todesschwadronen schossen mit scharfer Munition in die Menge und zerstörten mehrere Stockwerke eines Gebäudes, in dem sich unter anderem das IHD-Büro befand, bevor sie gegen die Menschen anstürmten. Hunderte Trauernde stürzten bei den Hevsel-Gärten am Mêrdîn-Tor in einen zehn Meter tiefen Abgrund, andere sprangen freiwillig, um sich zu retten. Wieder hunderte wurden festgenommen und zur Polizei oder Jandarma verschleppt, dort folterte man sie mit Schläuchen und Ketten. Währenddessen mussten sie die türkische Nationalhymne singen und rufen: „Glücklich derjenige, der sich als Türke bezeichnet”. Auch aus Ankara angereiste Parlamentsabgeordnete wurden beinahe zu Tode geprügelt. Nur die wenigsten Verletzten trauten sich in ein Krankenhaus.
23 Tote, über 2.000 Verletzte
Offiziellen Angaben zufolge wurden im Verlauf der Beerdigung von Vedat Aydın acht Menschen getötet. Der IHD und andere Menschenrechtsorganisationen hingegen sprechen von 23 Todesopfern und mehr als 2.000 Verletzten. Das Blutbad markierte einen neuen Höhepunkt in der jahrelangen Unterdrückung der kurdischen Gesellschaft, wurde jedoch mit Straflosigkeit belohnt. Ebenso hält die Türkei beim Mord an Vedat Aydın an dieser Kultur als herrschendes Prinzip fest. Obwohl die Namen der Beamten, die ihn am 5. Juli 1991 festnahmen, bekannt sind – Ali Ozansoy, Fethi Çetin und Aytekin Özen – wurde keiner von ihnen je zur Rechenschaft gezogen. Und wird es vermutlich auch nicht mehr. Nach türkischem Recht beträgt die Verjährungsfrist bei Taten, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht sind, dreißig Jahre. Mit dem heutigen Datum ist die Verfolgung des Mordes an Vedat Aydın verjährt. Die Praxis der Straflosigkeit für staatliche Morde an Kurdinnen und Kurden hat in der Türkei Tradition. Mit einem offenen Bruch mit der Vergangenheit rechnet niemand.