Sieben Jahre lag die Akte Musa Anter als „Mord unbekannter Täter” unbeachtet in den Archiven der türkischen Justiz, bis der Fall 1999 erstmals an einem Staatssicherheitsgericht (DGM, mittlerweile abgeschafft) in Amed (tr. Diyarbakir) im Rahmen eines JITEM-Verfahrens behandelt wurde, allerdings ohne nennenswerte Anforderungen an Aufklärung. Weitere zehn Jahre sollten vergehen, bis die Generalstaatsanwaltschaft Diyarbakir als Schwerpunktstaatsanwaltschaft für die Akte autorisiert wurde und 2013 auf Grundlage der Geständnisse eines Beteiligten (Abdulkadir Aygan) Anklage gegen acht Angehörige der Konterguerilla erhob – obwohl schon im Susurluk-Untersuchungsbericht von Ministerialinspektor Kutlu Savaş anerkannt wurde, dass der Mord an Musa Anter von staatlicher Seite aus verübt wurde. Aber auch jetzt findet durch die staatliche Justiz der Türkei keine Aufklärung statt. Der Fall droht in zwanzig Monaten zu verjähren, weil das Justizministerium nicht kooperieren will, sagt der Rechtsanwalt Selim Okçuoğlu. Anträge, eine Aussage des im schwedischen Exil lebenden Aygan einzuholen, bleiben seit Jahren unbeachtet.
Über 17.000 „Verschwundene“ durch „unbekannte Täter“
Seit den 1980er Jahren gelten in der Türkei tausende Menschen, größtenteils Kurdinnen und Kurden, als „verschwunden”. Mit der Praxis des „Verschwindenlassens” machte das Land nach dem Militärputsch vom September 1980 Bekanntschaft. Mitte der 90er Jahre, als der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die PKK besonders blutig war, erreichte diese Methode ihren Höhepunkt. Schätzungen gehen von über 17.000 „Verschwundenen“ durch „unbekannte Täter“ – das heißt durch parastaatliche und staatliche Kräfte - während dieser dunklen Periode aus. Die Leichen wurden in Massengräbern, Höhlen oder in stillgelegten Industrieanlagen verscharrt, auf Müllhalden geworfen, in Brunnenschächten und Säuregruben versenkt oder wie in Argentinien durch den Abwurf aus Militärhubschraubern beseitigt. Oft waren die Betroffenen von der Polizei oder der Armee zu Hause abgeholt worden, oder man hatte sie in die Wache vor Ort zu einer „Aussage“ bestellt, oder sie waren bei einer Straßenkontrolle des Militärs festgehalten worden. Das ist oft das letzte, was ihre Angehörigen vom Verbleib der Vermissten wissen. Die meisten „Morde unbekannter Täter“ gehen auf das Konto von JITEM. So lautet die Bezeichnung für den informellen Geheimdienst der türkischen Militärpolizei, der für mindestens vier Fünftel der unaufgeklärten Morde in Nordkurdistan verantwortlich ist, und dessen Existenz jahrelang vom Staat geleugnet wurde.
Musa Anter, die Platane der Kurden
Der kurdische Schriftsteller und Intellektuelle Musa Anter war ein Relikt aus einer anderen Zeit. 1920 im Dorf Zivingê in Nisêbîn (Nusaybin) geboren, erlebte er zu Lebzeiten vieles, was andere nur vom Hörensagen kannten. Die Gründungsjahre der türkischen Republik, den Aufstands des Şêx Seîdê Pîran (Scheich Said) und den Genozid in Dersim erlebte er als Schüler, den Zweiten Weltkrieg als Student. Er war einer der Protagonisten des kurzen Frühlings der kurdischen Nationalbewegung Ende der 1950er Jahre, im „Prozess der 49“ wurde er wegen kurdischer Propaganda und Separatismus angeklagt. Hintergrund war sein Gedicht Qimil (deut. Rüsselwanze, ein Getreideschädling), welches er im August 1959 in kurdischer Sprache in der Zeitschrift Ileri Yurt veröffentlicht hatte. Das Magazin mit Sitz in Amed (Diyarbakir) war seit Jahrzehnten wieder die erste Zeitschrift, die sich mit der kurdischen Frage beschäftigte. Musa Anter war der Herausgeber.
Von der kurdischen Gesellschaft wurde er Apê Mûsa - Onkel Musa - , genannt, oder auf Türkisch auch „Çınar”, was „Platane“ bedeutet, ein mächtiger Baum mit tiefen Wurzeln und weit reichenden Ästen. Am 20. September 1992 wurde die kurdische Platane im Alter von 74 Jahren in Amed von der Konterguerilla gefällt. Anter, der damals in Istanbul lebte, war zu einem Kultur- und Kunstfestival nach Amed gereist, auf Einladung der dortigen Stadtverwaltung. Gleich nach seiner Ankunft hefteten sich Polizisten in Zivil an seine Fersen. Unter dem Vorwand, einen Konflikt zwischen zwei zerstrittenen Familien beizulegen, lockte man Anter aus seinem Hotel. Mitten auf der Straße wurde er mit fünf Schüssen niedergestreckt.
Dicle Anter: Straflosigkeit für staatliche Morde beenden
Im türkischen Strafgesetz tritt die Verjährung bei Straftaten, die mit lebenslanger verschärfter Haft bedroht sind, nach 30 Jahren ein. Die Verantwortlichen der Morde und anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen, die gegen kurdische Zivilisten in den 1990er Jahren begangen wurden, werden so niemals zur Rechenschaft gezogen. Dicle Anter, ein Sohn von Musa Anter, fordert die türkische Justiz auf, die Straflosigkeit für staatliche Morde und Verschleppungen zu beenden und diese Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen. Am 7. April wird der Prozess um den Mord an seinem Vater in Amed fortgesetzt.