Sopranistin Pervin Chakar singt „Qimil“ von Musa Anter

In seinem 100. Geburtsjahr hat die kurdische Sopranistin Pervin Chakar das Gedicht „Qimil“ von Musa Anter vertont. Der Intellektuelle wurde 1992 von der türkischen Konterguerilla ermordet. Seine Biografie steht für die Geschichte des kurdischen Volkes.

Der kurdische Schriftsteller und Intellektuelle Musa Anter war ein Relikt aus einer anderen Zeit. 1920 im Dorf Zivingê in Nisêbîn (türk. Nusaybin) geboren, erlebte er zu Lebzeiten vieles, was andere nur vom Hörensagen kannten. Die Gründungsjahre der türkischen Republik, den Aufstands des Şêx Seîdê Pîran (Scheich Said) und den Genozid in Dersim erlebte er als Schüler, den Zweiten Weltkrieg als Student. Er war einer der Protagonisten des kurzen Frühlings der kurdischen Nationalbewegung Ende der 1950er Jahre, im „Prozess der 49“ wurde er wegen kurdischer Propaganda und Separatismus angeklagt. Hintergrund war sein Gedicht Qimil (deut. Rüsselwanze, ein Getreideschädling), welches er im August 1959 in kurdischer Sprache in der Zeitschrift Ileri Yurt veröffentlicht hatte. Das Magazin mit Sitz in Amed (Diyarbakir) war seit Jahrzehnten wieder die erste Zeitschrift, die sich mit der kurdischen Frage beschäftigte. Musa Anter war der Herausgeber.

Von der kurdischen Gesellschaft wurde er Apê Mûsa - Onkel Musa - , genannt, oder auch „Çınar”, was „Platane“ bedeutet, ein mächtiger Baum mit tiefen Wurzeln und weit reichenden Ästen. Am 20. September 1992 wurde die kurdische Platane im Alter von 74 Jahren in Amed von der Konterguerilla gefällt. Anter, der damals in Istanbul lebte, war zu einem Kultur- und Kunstfestival nach Amed gereist, auf Einladung der dortigen Stadtverwaltung. Gleich nach seiner Ankunft hefteten sich Polizisten in Zivil an seine Fersen. Unter dem Vorwand, einen Konflikt zwischen zwei zerstrittenen Familien beizulegen, lockte man Anter aus seinem Hotel. Mit Maschinenpistolen wurde er niedergestreckt.

In seinem 100. Geburtsjahr erfährt Musa Anter, Symbol für den Widerstandswillen und die Lebenskraft des kurdischen Volkes, nun mit der Vertonung seines Gedichts Qimil durch die kurdische Sopranistin Pervin Chakar weitere Aufmerksamkeit. Chakar, die ebenfalls in Nisêbîn geboren wurde, schloss erfolgreich ihr Bachelor-Studium an der Universität Gazi in Ankara ab. Daran schloss sich ein Studium am Conservatorio F. Morlacchi in Perugia/Italien. Sie gewann verschiedene internationale Wettbewerbe, als beste Frauenstimme des Jahres erhielt sie den „2012 Golden Orfeo Gran Prix Leyla Gencer“ von der Academié Disque du Lyrique in Frankreich und außerdem den Preis für die beste weibliche Stimme „2012 Best Female Voice“ von Semiha Berksoy von der türkischen Opernstiftung. Sie ist Gewinnerin des Preises „2013 Best Female Voice“ des Andante Magazines 4th Donizetti Classical Music Award in der Türkei. Chakar gab viele Konzerte und Opern mit namhaften symphonischen Orchestern von Irland über Albanien, Spanien, Russland und Deutschland. In Italien gab sie unter anderem Gendenkkonzerte für Luciano Pavarotti und Andrea Bocelli. Seit 2016 lebt die 39-Jährige in Baden-Baden.

Begleitet wird Pervin Chakar bei dem vertonten Stück Qimil von Tara Jaff, einer 1958 in Bagdad als Tochter eines Kurden aus Helebce (Halabja) und einer Tatar-Türkin geborenen Harfenspielerin und Sängerin, die in London lebt und hauptsächlich in Hewramî singt. Die Harfe ist eines der frühesten Musikinstrumente Mesopotamiens. Zur Harfe sagt man im Westen auch, sie sei ein „gotisches“ Instrument. Tara Jaff gilt weltweit als die erfolgreichste kurdische Harfenspielerin.

 

In seinen Memoiren schrieb Musa Anter über sein Gedicht Qimil

„Hinfort wurde jeder meiner täglichen Artikel in Diyarbakır zum Gegenstand eines Prozesses und verbreitete sich dadurch in ganz Kurdistan, auch in Istanbul und Ankara. Ich zog in Betracht, egal, was war, täglich vor Gericht zu stehen. Doch soll es sich wenigstens lohnen, sagte ich mir. Auf Kurdisch schrieb ich das Gedicht Qimil, es war zwar lang, aber ohne literarischen Wert. Ich fügte eine Erläuterung auf Türkisch hinzu. Ganz zum Schluss sagte ich zu dem traurigen Mädchen, der Heldin des Gedichts: „Gräme dich nicht, meine Schwester! Deine Brüder sind inzwischen groß genug geworden, dich zu befreien: sowohl vom Verlust durch den Weizenschädling, als auch von dem Schaden, den dir diejenigen zufügen, die dich rücksichtslos ausnutzen.“ Das Gedicht begann so:

Bi çîya ketim lo apo, çîya melûlbûn rebeno - Ich entflammte für die Berge, Onkel. Die Berge aber waren traurig, Unglückliche.

Innerhalb kurzer Zeit lernten fast alle kurdischen Jugendlichen dieses Gedicht auswendig. Die türkische Presse aber empörte sich. In Istanbul, Ankara, Izmir, sogar in Ödemiş, und zwar in der dort herausgegebenen Ödemiş-Zeitung, schrieb man Artikel über mich. Nur ganz vereinzelt reagierten die Schreiber normal: „Das ist in Ordnung! Was ist schon dabei, wenn ein kurdisches Gedicht geschrieben wird?“ Doch die Mehrheit spie Feuer. Besonders Fatif Rıfkı Atay schlug in der Ulus vor, mir den Kopf abzureißen. Kurdische Studenten an den Universitäten in Istanbul und Ankara dagegen ließen sich zu Begeisterungsausbrüchen hinreißen. Aus diesen beiden Städten und aus allen kurdischen bekam ich Hunderte von Glückwunsch- und Solidaritätstelegrammen. Die Zeitung Ileri Yurt war vollständig zum Sprachrohr dieses Vorfalls geworden. Doch auch in diesem Prozess wurde ich freigesprochen.“ (Meine Memoiren, Musa Anter, aus dem Kurdischen und Türkischen übertragen von Ernst Tremel, 1999)