Auftakt der Wochen der Verschwundenen
Mit Blumen und Bildern ihrer vermissten Angehörigen versammelten sich die Samstagsmütter auch in dieser Woche auf dem Istanbuler Galatasaray-Platz, um zum mittlerweile 1051. Mal Gerechtigkeit für Menschen zu fordern, die in staatlicher Obhut „verschwunden“ sind. Anlass der dieswöchigen Mahnwache war aber auch die vom 17. bis 31. Mai begangenen „Internationalen Wochen gegen das Verschwindenlassen in Haft“.
An der Kundgebung nahmen neben Angehörigen von Vermitten und Aktivist:innen auch der Ko-Vorsitzende der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM), Tuncer Bakırhan, sowie die DEM-Abgeordnete Pervin Buldan teil.
Kritik an der Kultur der Straflosigkeit
Die Erklärung auf der Kundgebung wurde von Maside Ocak, der Schwester des 1995 in Polizeigewahrsam zu Tode gefolterten Hasan Ocak, verlesen. Sie betonte, dass die anhaltende Straflosigkeit nicht nur bestehende Menschenrechtsverletzungen verschleiere, sondern auch künftige ermögliche. „Diese Kultur der Straflosigkeit steht der gesellschaftlichen Versöhnung und einem demokratischen Rechtsstaat im Weg“, so Ocak.

Die Angehörigen der Verschwundenen stellen seit Jahrzehnten die gleiche Frage: „Wo sind unsere Liebsten?“ Das gewaltsame Verschwindenlassen sei, so Ocak, ein „Verbrechen, das nicht nur die Opfer betrifft, sondern das Leben der Zurückbleibenden über Generationen hinweg traumatisiert“.
Forderungen der Samstagsmütter
Die Protestbewegung, die seit 1995 besteht, bekräftigte auch diesmal ihre zentralen Forderungen:
▪ Aufklärung des Schicksals aller in Gewahrsam verschwundenen Personen,
▪ juristische Aufarbeitung durch Anklagen gegen Verantwortliche,
▪ Anerkennung des Verschwindenlassens als Verbrechen gegen die Menschlichkeit im türkischen Strafgesetzbuch,
▪ Beendigung von Straflosigkeit,
▪ Ratifizierung und Umsetzung der UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen,
▪ sowie die Aufhebung der polizeilichen Blockade auf dem Galatasaray-Platz.

„Frieden braucht Wahrheit, Gerechtigkeit und kollektive Erinnerung“
Maside Ocak betonte in ihrer Rede, dass die Umsetzung der Forderungen der Samstagsmütter nur im Rahmen eines dauerhaften und gerechten Friedens möglich sei. Ein solcher Prozess könne jedoch nicht ohne die Bereitschaft zu Wahrheit, Aufarbeitung und Gerechtigkeit gelingen. „Ein wirklicher Frieden muss begleitet werden von einer umfassenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der Anerkennung begangenen Unrechts und einer Justiz, die ihre Arbeit unparteiisch und lückenlos erfüllt“, sagte Ocak.
Der Weg zu einer neuen politischen Ordnung, so Ocak weiter, müsse auf der Wiederherstellung des gesellschaftlichen Gedächtnisses, auf dem konsequenten Schutz von Menschenrechten und auf der Aufhebung struktureller Gewalt beruhen. „Die Chance auf Frieden darf nicht erneut parteipolitischen Kalkülen geopfert werden. Es braucht eine klare und glaubwürdige politische Entschlossenheit, um einen gerechten und dauerhaften Frieden zu ermöglichen.“
Mit Blick auf die laufenden Debatten rund um die Auflösung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), dem Ende des bewaffneten Kampfes und neue Friedensinitiativen erklärte Ocak: „Anlässlich der Woche der Verschwundenen hoffen wir, dass ein Verzicht auf Gewalt den Weg für eine neue Epoche des Friedens öffnet – und wir rufen die gesamte Gesellschaft auf, unsere Forderung nach Wahrheit, Gerechtigkeit und einem würdevollen Frieden zu unterstützen.“
Kırbayır: Der Kampf geht weiter
Die letzte Rede hielt Mikail Kırbayır, Bruder des 1980 in Haft verschwundenen Cemil Kırbayır. Er bekräftigte: „„Gegen alle, die das Schicksal unserer verschwundenen Angehörigen unter den Teppich kehren wollen, gegen jede Politik der Vernichtung und Verleugnung – wir, die Angehörigen der Verschwundenen, werden gemeinsam mit unseren Mitstreiter:innen so lange weiterkämpfen, bis Wahrheit und Gerechtigkeit ans Licht kommen.“