Mord in staatlichem Gewahrsam
Die Initiative der Samstagsmütter hat bei ihrer 1050. Mahnwache gegen das Verschwindenlassen in staatlicher Obhut auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul Gerechtigkeit für Halil und Kasım Alpsoy gefordert. Die beiden Kurden sind im Mai 1994 das letzte Mal lebend gesehen worden.
Sebla Arcan vom Menschenrechtsverein IHD erinnerte an die letzten Stunden von Halil Alpsoy. Am 12. Mai 1994 sei er vor seinem Haus in Istanbul von der Polizei festgenommen worden – trotz Protest seiner Frau, die ein Neugeborenes auf dem Arm hielt. „Die Beamten zeigten ihre Ausweise und sagten, es dauere nur eine halbe Stunde, doch Halil kehrte nie zurück.“ 18 Tage später wurde seine Leiche in einem Waldstück in Kırıkkale gefunden, so schwer gefoltert, dass er nur anhand einer Narbe aus Kindheitstagen identifiziert werden konnte.
„Sie haben ihn geholt – und nie zurückgebracht“
Eine Woche später wurde auch sein Cousin Kasım Alpsoy in Adana von maskierten, schwer bewaffneten Polizeikräften festgenommen. Zwar wurde er kurzzeitig freigelassen, jedoch ohne Ausweisdokumente. Als er am folgenden Tag im örtlichen MIT-Gebäude (türkischer Geheimdienst) vorsprach, um seinen Ausweis abzuholen, verschwand er spurlos. Ein Verwandter wartete vergeblich am Eingang – Kasım Alpsoy verließ das Gebäude nie wieder.
Keine Ermittlungen, keine Antworten
Bis heute wird die Verhaftung der beiden Männer von staatlicher Seite nicht anerkannt. Alle Versuche der Familien, Aufklärung zu erlangen oder ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, blieben ohne Erfolg. „Seit über drei Jahrzehnten verhindern Regierungen konsequent, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden“, sagte Arcan. „Doch wir werden nicht aufhören, nach Gerechtigkeit zu rufen – für Halil, für Kasım und für alle Verschwundenen.“
Halil Alpsoys Sohn Serdar © MA
„Erdoğan soll sein Versprechen halten“
Besonders eindringlich wandte sich Şeyla Erdoğan Alpsoy, die Ehefrau von Kasım Alpsoy, an die Öffentlichkeit: „Mein Mann wurde verschleppt und getötet. Wir haben Präsident Erdoğan persönlich getroffen – er hat uns versprochen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Dieses Versprechen ist bis heute nicht eingelöst.“ Sie forderte die vollständige Freigabe des Galatasaray-Platzes für die Mahnwachen der Samstagsmütter – die Zahl der Teilnehmenden wird von der Polizei willkürlich begrenzt – und die Entfernung der Polizeisperren am Menschenrechtsdenkmal auf dem Platz: „Wir wollen nicht, dass andere unser Schicksal teilen. Wir wollen die Gebeine unserer Lieben – und endlich Gerechtigkeit.“
„Wir haben unsere Kindheit mit der Suche nach Wahrheit verbracht“
Serdar Alpsoy, Sohn von Halil Alpsoy, war 14 Jahre alt, als sein Vater verschleppt wurde. Heute ist er 45: „Seitdem frage ich mich, was die letzten Worte meines Vaters waren. Ich stelle sie mir immer wieder vor. Wir sind ohne Antwort aufgewachsen – mit Fragen, mit Schmerz, mit dem Gefühl, dass die Täter unter uns leben.“ Er appellierte direkt an Erdoğan: „Halten Sie Ihr Wort. Wo sind unsere Väter? Wir wollen ihre Knochen – und die Verantwortlichen vor Gericht sehen.“
Ein Kampf, der weitergeht
Auch Hanım Tosun, Ehefrau des 1995 in Istanbul verschleppten und seither verschwundenen Fehmi Tosun, ergriff das Wort. „Andere bringen zum Muttertag Blumen ans Grab. Wir haben kein Grab. Aber wir haben unsere Stimme.“ Sie erinnerte an all die Mütter, die gestorben sind, ohne Gewissheit zu bekommen – und versprach: „Wir kämpfen weiter, bis alle Verbrechen an den Verschwundenen gesühnt sind.“