Symbolhafter Fall politischer Strafjustiz
Der Fall des schwerkranken Gefangenen Ergin Aktaş, dem inzwischen sieben Mal offiziell die Haftunfähigkeit attestiert wurde, wirft ein grelles Licht auf die politische Praxis im türkischen Strafvollzug. Trotz mehrfacher Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin (ATK), darunter ein Bericht über dauerhafte Behinderung, wird Aktaş weiterhin unter härtesten Bedingungen im Hochsicherheitsgefängnis Metris festgehalten – mit Verweis auf ein angebliches „Sicherheitsrisiko“.
Ergin Aktaş wurde 2011 festgenommen und später zu zweimal erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Er ist beidseitig armamputiert und ist an Tuberkulose, COPD und Lungenentzündung erkrankt. Dennoch ignorieren Justiz und Sicherheitsbehörden die Einschätzungen von Fachgremien, die ihn für haftunfähig erklären. Selbst das ATK – in der Türkei nicht gerade für seine Unabhängigkeit bekannt – wiederholte in seinem jüngsten Bericht vom April dieses Jahres die bisherige Bewertung: Aktaş könne in Haft nicht überleben.
Die Istanbuler Staatsanwaltschaft lehnt eine Freilassung dennoch ab – mit Verweis auf eine Bewertung der Polizei, Aktaş könne „für die Gesellschaft gefährlich“ sein. Selbst der medizinische Dienst wies diesen Punkt zurück: Es handle sich um eine nichtmedizinische, politisch motivierte Frage.
Symbolfall für autoritäre Straflogik
Jurist:innen und Menschenrechtler:innen sprechen längst von einem politischen Präzedenzfall. Die Verknüpfung von medizinisch bestätigter Haftunfähigkeit mit spekulativen Sicherheitsargumenten öffne Tür und Tor für eine willkürliche Verlängerung politisch motivierter Gefangenschaft. Nicht zuletzt unterminiere sie die internationale Menschenrechtsverpflichtung der Türkei – insbesondere die Verpflichtung zur Achtung des Rechts auf Leben und Würde.
„Kein Zugang zur Gerechtigkeit, sondern systematischer Ausschluss“
Die Abgeordnete Newroz Uysal Aslan (DEM-Partei) hat sich mit einer Petition an die Menschenrechtskommission des Parlaments gewandt und spricht von einem offensichtlichen Verstoß gegen nationale und internationale Rechtsnormen. „Hier geht es nicht nur um einen einzelnen Gefangenen – es geht um die Frage, ob medizinische Gutachten überhaupt noch einen juristischen Wert haben, wenn der Staat sich bewusst darüber hinwegsetzt.“
Sie verweist auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), insbesondere zur sogenannten Hoffnungsperspektive beziehungsweise dem „Recht auf Hoffnung“ bei lebenslangen Freiheitsstrafen ohne Bewährung. Diese seien auch im Fall Abdullah Öcalan relevant und müssten in nationales Recht übersetzt werden.
Ergin Aktaş
Forderung nach Gesetzesänderung
Newroz Uysal Aslan fordert in ihrer Eingabe an das Parlament unter anderem die unverzügliche Freilassung Aktaş‘ auf Grundlage der ATK-Gutachten, die Abschaffung der Regel, wonach bei verschärfter lebenslanger Haft keine Haftunterbrechung möglich ist, die Streichung der unbestimmten, politisch instrumentalisierbaren Formulierung „könnte eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen“ aus dem Strafvollzugsgesetz, und eine gesetzliche Grundlage für humanitäre Haftverschonung bei schweren Erkrankungen.
Menschenrechtliche Verantwortung der Regierung
„Der türkische Staat verletzt hier gezielt das Prinzip der Menschenwürde“, so Uysal Aslan weiter. „Dass medizinische Kriterien mit polizeilicher Gefahrenrhetorik überlagert werden, ist nicht nur rechtsstaatlich unhaltbar – es ist eine gezielte Strategie zur Aufrechterhaltung politischer Haft und kommt einem Feindstrafrecht gleich.“