NGOs: Folter in der Türkei weiterhin systematisch verbreitet

Am ehemaligen Istanbuler Folterzentrum Gayrettepe – dem Ort, an dem viele Menschen spurlos verschwanden, prangerten Menschenrechtsorganisationen an, dass Folter in türkischen Polizeibehörden weiterhin systematisch angewendet wird.

Zum Internationalen Tag zur Unterstützung von Folteropfern

Anlässlich des Internationalen Tages zur Unterstützung von Folteropfern am 26. Juni haben die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) und der Menschenrechtsverein IHD in Istanbul auf die anhaltende Praxis systematischer Folter in der Türkei aufmerksam gemacht. Der Auftakt eines dreitägigen Programms fand am Dienstagnachmittag vor dem ehemaligen Gebäude der Polizeidirektion Gayrettepe statt – einem historischen Ort, der insbesondere während der Militärdiktatur in den 1980er Jahren für massive Menschenrechtsverletzungen bekannt war.

Bei der Kundgebung vor dem mittlerweile abgerissenen Komplex wurden Plakate mit Aufschriften wie „Folter verjährt nicht“, „Nacktdurchsuchungen sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Die Würde des Menschen wird die Folter besiegen“ gezeigt. Auch ein Transparent mit der Aufschrift „Eine Welt ohne Folter ist möglich“ war zu sehen.

Gayrettepe-Mentalität lebt weiter

Die Erklärung wurde von Ikbal Eren verlesen, der Schwester von Hayrettin Eren, der 1980 während der Junta im Polizeigewahrsam spurlos verschwand. „Wir stehen heute an einem Ort, den viele nie lebend verlassen haben“, sagte Eren. „Zwar wurde das Gebäude 2023 abgerissen, doch die dahinterstehende Mentalität existiert fort. Wir fragen: Wurde dieses Gebäude wirklich zerstört – oder lebt es in anderer Form weiter?“

Ikbal Eren (l.), rechts daneben IHD-Vorsitzende Eren Keskin © MA

Tausende dokumentierte Fälle – neue Generation von Betroffenen

Eren verwies auf Untersuchungen und Archivmaterial, wonach in der Zeit nach dem Militärputsch von 1980 rund 650.000 Menschen in der Türkei verhaftet und mindestens 45 verschiedene Foltermethoden dokumentiert worden seien. Allein 171 Todesfälle unter Folter seien belegt, viele davon im Gebäude der Istanbuler Polizeidirektion.

Als aktuelles Beispiel nannte Eren die landesweiten Proteste vom 19. März, die im Zuge der Festnahme des mittlerweile abgesetzten Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu (CHP) ausgebrochen waren. Diese hätten erneut gezeigt, dass Folter kein vergangenes Kapitel sei, sondern eine bis heute fortdauernde Praxis staatlicher Gewalt. „Was wir erleben, ist eine historische und geistige Kontinuität von Folter“, so Eren.

„Nacktdurchsuchungen bedeuten Folter“ © MA

Hunderte neue Fälle im Jahr 2024

Laut den Daten der TIHV wandten sich allein im Jahr 2024 insgesamt 697 Personen an die Stiftung, die angaben, während der Haft oder in Polizeigewahrsam misshandelt worden zu sein. Besonders häufig genannt wurden die Polizeidirektionen in Istanbul (23,1 Prozent), Wan/Van (10,7 Prozent), Amed/Diyarbakır (5,1 Prozent) und Ankara (3,1 Prozent).

Die Organisationen fordern eine lückenlose Aufklärung sowie die juristische Verfolgung aller Fälle von Folter. Das Schweigen der Justiz und das Fehlen politischer Konsequenzen verschärften die Straflosigkeit, so der Vorwurf.

Der Aktionstag ist Teil eines internationalen Rahmens, der von den Vereinten Nationen (UN) initiiert wurde. Weltweit wird am 26. Juni an die Opfer von Folter und ihre Rechte erinnert – und an die Verpflichtung der Staaten, diese Praxis zu beenden.