In einem gestern veröffentlichten Bericht dokumentiert und bewertet die Menschenrechtsorganisation Amnesty International Fälle von Polizeigewalt gegen friedliche Demonstrierende während und nach der Proteste, die in der Türkei landesweit auf die Festnahme von Ekrem İmamoğlu (CHP), dem Bürgermeister von Istanbul, und 91 weiteren Personen am 19. März 2025 ausbrachen.
Die türkischen Behörden müssen unverzüglich unabhängige, unparteiische und wirksame Untersuchungen zu mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen durchführen, die von Strafverfolgungsbeamten während der Massenproteste im März 2025 begangen wurden und von denen einige möglicherweise Folter darstellen, so Amnesty International in neuen Forschungsergebnissen.
„Ich kann nicht atmen“: Vorwürfe von Folter und anderer Misshandlung
„Unsere Ergebnisse liefern eindeutige Beweise dafür, dass Polizeibeamte in Städten in der ganzen Türkei häufig unrechtmäßige Gewalt gegen friedliche Demonstrierende angewendet haben. Die Behörden setzten Tränengas, Pfefferspray, kinetische Projektile und Wasserwerfer gegen Menschen ein, die lediglich ihre Rechte ausübten“, sagte Esther Major, stellvertretende Direktorin für Untersuchungen in Europa bei Amnesty International.
Carmen Traute, Expertin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland, bewertete die Ergebnisse wie folgt: „Die dokumentierten Fälle von rechtswidriger Gewalt gegen friedlich Demonstrierende durch die türkische Polizei stellen eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar. In manchen Fällen kommen die Verletzungen womöglich Folter gleich. Die türkischen Behörden müssen sicherstellen, dass alle Vorwürfe vollumfänglich untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“
Brutale Gewalt und Repression gegen Massenproteste
Friedliche Demonstrierende erlitten zahlreiche Verletzungen und mussten sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden. Nach offiziellen Angaben nahmen die Strafverfolgungsbehörden mindestens 1.879 Personen fest, von denen bis Ende März mehr als 300 in Untersuchungshaft blieben. Mindestens acht Journalist:innen und vier Anwält:innen wurden nach dem Versammlungs- und Demonstrationsgesetz angeklagt, das die Teilnahme an nicht genehmigten Versammlungen unter Strafe stellt. Dutzende von Strafverfahren, in denen Hunderte vor Gericht gestellt werden, begannen im April, weitere Anhörungen stehen in den kommenden Monaten an.
Beweismaterial gesichtet und ausgewertet
Amnesty International sammelte 16 Zeug:innenaussagen von Demonstrierenden und eine Aussage des Anwalts einer an den Protesten beteiligten Person und überprüfte Dutzende von Videos, die dokumentieren, wie Demonstrierende von Strafverfolgungsbeamten geschlagen, getreten und über den Boden geschleift wurden, selbst wenn sie sich bereits zerstreuten, keinen Widerstand leisteten oder längst festgehalten wurden.
Die Researchgruppe der Organisation beschaffte und prüfte außerdem Gerichtsdokumente, ärztliche Untersuchungsberichte und Strafanzeigen von Demonstrierenden, in denen Details zu den Vorwürfen von Misshandlungen und Verletzungen festgehalten waren, die die Aussagen der befragten Personen bestätigten.
Verstöße gegen internationales Menschenrecht
Die Demonstrierenden wurden von der Polizei mit Wasserwerfern, Tränengas und kinetischen Projektilen beschossen, oft aus nächster Nähe direkt auf Kopf und Oberkörper, was gegen internationale Menschenrechtsgesetze und -standards verstößt. Die Beamten setzten Pfefferspray ein, das sie oft aus einer Entfernung von weniger als einem Meter direkt ins Gesicht der Menschen sprühten, was zu Verbrennungen, Schmerzen und Entzündungen führte.
Kein Entkommen
Die Warnungen der Polizei vor der Auflösung der Demonstrationen entsprachen durchweg nicht den Anforderungen des nationalen und internationalen Rechts, da den Teilnehmenden nicht genügend Zeit und Raum gegeben wurde, um die Demonstrationen sicher und freiwillig zu verlassen. Fast alle befragten Personen berichteten Amnesty International, dass sie die Lautsprecherdurchsagen der Polizei zur Auflösung der Demonstrationen nicht gehört hätten oder dass unmittelbar nach der Warnung Gewalt angewendet worden sei.
Eine Person berichtete Amnesty International, dass bei einer Demonstration in Istanbul am 23. März nach der Aufforderung der Polizei zur Auflösung keine Zeit blieb, bevor sofort Pfefferspray und kinetische Projektile eingesetzt wurden. Er beschrieb, wie viele Menschen, die zu fliehen versuchten, wie Dominosteine übereinander fielen und dass die Polizei weiterhin Pfefferspray einsetzte und Menschen schlug, die am Boden lagen.
Er berichtete Amnesty International: „Alle um mich herum schrien ‚Ich kann nicht atmen‘ … Alle lagen übereinander wie eine menschliche Pyramide aus etwa 30 Personen.“
Schwere Verletzungen und bleibende Gesundheitsschäden
Am 23. März wurde ein Mann auf dem Saraçhane-Platz in Istanbul von einem kinetischen Projektil am Auge getroffen. Infolgedessen musste er sich einer Vitrektomie unterziehen, einem Eingriff zur Entfernung des Glaskörpers aus dem Auge. Nach ärztlicher Aussage wird er das Sehvermögen in diesem Auge möglicherweise nie wieder vollständig zurückerlangen. Einem anderen Demonstrierende in Ankara wurde der Fuß von einem Wasserwerfer zerquetscht.
Eine 27-jährige Studentin, die am 22. März an einer Demonstration in Istanbul teilgenommen hatte, berichtete Amnesty International über ihren Anwalt: „Ich wurde so oft getreten, dass ich nicht mehr richtig laufen konnte. Ich fiel immer wieder hin. Sie zerrten mich auf den Knien hinter sich her. Ich dachte, ich würde sterben.“
Androhung von Gewalt und sexualisierter Gewalt
Ein anderer Mann, der am 23. März an einer Demonstration in Istanbul teilgenommen hatte, berichtete Amnesty International: „Etwa sechs oder sieben Bereitschaftspolizisten traten und schlugen mich, auch ins Gesicht und auf den Kopf. Einer von ihnen versetzte mir einen Sprungtritt gegen die Brust. Durch die Schläge wurden einige meiner Zähne locker. Während sie mich schlugen, schrien sie Beleidigungen wie ‚Ich werde deine Mutter und deine Schwester ficken, du Hurensohn‘.“
Auch andere berichteten von Gewaltandrohungen, darunter auch sexualisierte Gewalt. Der Student Eren Üner wurde am 24. März in Istanbul in seiner Wohnung festgenommen und von der Polizei geschlagen, nachdem er Beiträge von Polizeibeamten in den sozialen Medien geteilt hatte, in denen diese mit ihrer Misshandlung von Demonstrierenden prahlten.
Üner beschrieb, wie die Polizeibeamten, die ihn festnahmen, ihm sagten: „Wir werden dich durch die Hintertür des Busses der Bereitschaftspolizei reinbringen, und deine Leiche wird durch die Vordertür wieder rauskommen.“ Er berichtete Amnesty International außerdem: „Die leitenden Beamten sagten, sie würden mir einen Schlagstock einführen, und baten die anderen Polizeibeamten um einen Schlagstock. Aber dazu kam es nicht.“
Systematische Gewalt und „ungeheuerliche Repression“
„Aus unseren Erkenntnissen geht klar hervor, dass das, was während dieser weitgehend friedlichen Proteste im März in der Türkei geschah, einen eklatanten Verstoß gegen das Recht der Menschen auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung darstellt“, stellte Esther Major fest.
„Fälle von unnötiger Gewaltanwendung waren keine Einzelfälle, sondern scheinen ein Muster zu widerspiegeln, wonach Strafverfolgungsbeamte systematisch gegen Menschen vorgingen, die friedlich protestierten, daneben standen oder versuchten, sich zu zerstreuen. Diese Verstöße sind die jüngsten in einer Reihe von ungeheuerlichen und anhaltenden Repressionen gegen friedliche Meinungsäußerungen. Wir fordern die türkischen Behörden auf, dafür zu sorgen, dass diese Vorfälle untersucht und die Täter vor Gericht gestellt werden und die Opfer für das ihnen zugefügte Leid entschädigt werden.“
Hintergrund
Nach internationalem Recht sind Staaten gesetzlich verpflichtet, das Recht auf friedliche Versammlung für diejenigen zu achten und zu gewährleisten, die sich mit anderen versammeln möchten. Jede Einschränkung des Rechts auf friedliche Versammlung muss gesetzlich vorgeschrieben sein, einem legitimen Ziel dienen und für dieses Ziel notwendig und verhältnismäßig sein.
Pauschale Verbote von Protesten sind potenziell unverhältnismäßig, Einschränkungen von Versammlungen müssen stattdessen auf einer individuellen Beurteilung des Verhaltens bestimmter Teilnehmender oder einer bestimmten Versammlung durch die Behörden beruhen. Jede Anwendung von Gewalt durch Strafverfolgungsbeamte muss unbedingt notwendig und verhältnismäßig sein. Es darf nur die minimal erforderliche Gewalt angewendet werden. Diejenigen, die unrechtmäßige Gewalt anwenden, müssen zur Rechenschaft gezogen werden.
Festnahmewellen gegen die Istanbuler Stadtverwaltung
Ekrem İmamoğlu wurde am 23. März in Untersuchungshaft genommen, am selben Tag, an dem er von seiner Partei nach einer symbolischen Vorwahl, an der über 15 Millionen Menschen teilnahmen, zum Hauptkandidaten der Opposition für die nächsten Präsidentschaftswahlen nominiert wurde. Er wurde zusammen mit den Bezirksbürgermeistern von Şişli und Beylikdüzü, gegen die ebenfalls Anklage erhoben wurde, seines Amtes enthoben. Bis Anfang Juni kam es zu vier weiteren Verhaftungswellen, bei denen Dutzende gewählte Vertreter:innen, Mitarbeitende der Stadtverwaltung von Istanbul sowie Personen aus den Bezirksverwaltungen in Gewahrsam genommen wurden.