Warum Kurd:innen nicht an Demos teilnehmen
Nach der Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu und den darauf folgenden landesweiten Protesten steht die Türkei erneut an einem entscheidenden Scheideweg. Die gegenwärtigen Proteste sind ein Ausdruck der tiefen Unzufriedenheit mit der autokratischen Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan und spiegeln die wachsende Wut über die systematische Aushöhlung demokratischer Institutionen wider.
Altbekannte Methoden mit neuem Ziel
Das Vorgehen der türkischen Regierung, kurdische Oberbürgermeister:innen abzusetzen, zu inhaftieren und durch regierungstreue Zwangsverwalter zu ersetzen, ist seit Jahrzehnten ein zentraler Bestandteil der repressiven Politik Erdoğans. Diese Maßnahmen zielten bisher vor allem auf kurdische Politiker:innen ab, deren Proteste von der türkischen Öffentlichkeit nicht unterstützt wurden. Doch nun hat die autokratische Praxis auch große Teile der säkularen kemalistischen CHP erreicht, die einen bedeutenden Teil der türkischen Öffentlichkeit politisch repräsentiert. Dies zeigt deutlich, dass die autoritären Strukturen der Regierung längst nicht mehr ausschließlich Minderheiten, sondern zunehmend die gesamte Opposition bedrohen.
Historische Chance für Demokratisierung
Die aktuellen Proteste könnten eine historische Chance für eine Demokratisierung der Türkei darstellen. Sie verdeutlichen, dass breite Teile der Bevölkerung bereit sind, sich gegen die undemokratische „Ausschaltung“ eines potenziellen Präsidentschaftskandidaten und gegen die fortschreitende Unterdrückung durch das Regime Erdoğans zu wehren. In der Protestbewegung kommen derzeit verschiedene gesellschaftliche Gruppen zusammen, die zuvor kaum miteinander in Kontakt standen. Doch gleichermaßen birgt die Situation erhebliche Risiken. In zahlreichen Regionen treten Protestierende mit Wolfsgrüßen auf, greifen kurdische Demonstrierende an und ermöglichen es rechten sowie nationalistischen Kräften, die Bewegung für ihre Zwecke zu vereinnahmen.
Sollte sich dieser Trend fortsetzen, würde dies die ursprünglichen Ziele der Proteste – Demokratie und Gerechtigkeit – langfristig ins Leere laufen lassen und eine nachhaltige Demokratisierung zusätzlich erschweren.
Gefährdeter Friedensprozess?
Das Vorgehen der türkischen Regierung steht zudem in mehrfacher Hinsicht im Widerspruch zu den möglichen Friedensverhandlungen. Die unrechtmäßige Inhaftierung Imamoğlus verstärkt die politische Instabilität im Land und untergräbt zudem die Bemühungen um einen Friedensprozess zur Beendigung des jahrzehntelangen Konflikts zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Arbeiterpartei PKK.
Erdoğans autoritärer Kurs sowie die damit verbundenen repressiven Maßnahmen zu seinem Machterhalt stehen im Widerspruch zum Friedensappell des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan, der in seiner Botschaft Ende Februar „die Existenz einer demokratischen Gesellschaft und eines politischen Raums” für die Lösung der kurdischen Frage eingefordert hatte. Behauptungen, Kurd:innen würden sich aus taktischen Gründen und aus Rücksicht zu den möglichen Friedensverhandlungen nicht an den gegenwärtigen Protesten beteiligen, haben wenig mit der Realität auf der Straße und dem von Öcalan angestoßenen Prozess zu tun. Vielmehr stört sich die kurdische Gesellschaft an rechtsextremen und anti-kurdischen Gruppen, die vielerorts ungestört an den Demonstrationen teilnehmen.
Nichtsdestotrotz hat sich die DEM-Partei eindeutig auf der Seite des demokratischen Protestes positioniert. Eine Abordnung der DEM-Partei traf am Sonntag im Anschluss an die große Newroz-Feier bei der Stadtverwaltung in Saraçhane ein, um ihre Solidarität mit der CHP zu bekunden. In einer anschließenden Pressekonferenz betonten der Ko-Vorsitzende Tuncer Bakırhan und der CHP-Parteivorsitzende Özgür Özel ihre gemeinsame Zielsetzung, den Kampf für Demokratie fortzuführen.
Internationale Folgen
Die Entwicklungen innerhalb der Türkei könnten nicht nur innenpolitische, sondern auch geopolitische Konsequenzen haben. Obwohl Erdoğans repressiver Kurs in Europa bislang nur verhaltene Kritik hervorgerufen hat, könnte er die geopolitische Rolle der Türkei geschwächt haben. Als Präsident, der sich in der Vergangenheit wiederholt als Vermittler in internationalen Konflikten, etwa im Ukraine-Krieg, inszeniert hat, riskiert Erdoğan, durch die innenpolitische Krise an Einfluss zu verlieren. Dies könnte die strategische Position der Türkei gegenüber westlichen Partnern weiter schwächen.
Um die Türkei auf den Weg der Demokratisierung zu führen und die Grundlage für einen erfolgreichen Friedensprozess zu schaffen, ist es essenziell, dass sich alle demokratischen Stimmen im Land vereinen und sich gegen die zunehmende Repression behaupten. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob die Protestbewegung in der Türkei zu einer gesellschaftlichen Kraft werden kann, die trotz Erdoğans repressiver Politik den Weg für einen demokratischen Wandel offenhält.
Der Text ist der Webseite von Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichtkeitsarbeit e.V. entnommen