Gedenkkundgebung für Şêx Seîd in Köln

Auf dem Heumarkt in Köln haben sich am Sonntag Hunderte Menschen zu einer Gedenk- und Protestkundgebung versammelt, um an Şêx Seîd und 47 seiner Weggefährten zu erinnern.

Aufruf zu Gerechtigkeit und historischer Aufarbeitung

Auf dem Heumarkt in Köln haben sich am Sonntag Hunderte Menschen zu einer Gedenk- und Protestkundgebung versammelt, um an Şêx Seîd und 47 seiner Weggefährten zu erinnern, die 1925 nach dem kurdischen Aufstand gegen die junge türkische Republik hingerichtet wurden. Die Veranstaltung, organisiert vom Nationalkongress Kurdistans (KNK), der Islamischen Gemeinschaft Kurdistans (CÎK) sowie mehreren kurdischen Instituten, stand im Zeichen eines kollektiven Erinnerns und der politischen Forderung nach historischer Gerechtigkeit.

Die Kundgebung bildete den Abschluss einer europaweiten Veranstaltungsreihe zum 100. Jahrestag des Aufstands und war zugleich der öffentliche Rahmen für die Verlesung der überarbeiteten Abschlusserklärung der Brüsseler Konferenz „Şêx Seîd und die Azadî-Gesellschaft: Geschichte, Erinnerung und kollektiver Protest“.


„Der Widerstand lebt fort“

Teilnehmer:innen erinnerten mit Bildern und Transparenten an zentrale Figuren des kurdischen Widerstands wie Şêx Seîd, Xalit Begê Cibrî, Seyit Abdulkadir oder Yusuf Ziya. KNK-Ko-Vorsitzender Ahmet Karamus betonte in seiner Rede die Bedeutung des Aufstands von 1925 als Reaktion auf den „kollektiven Identitätsentzug“ im Zuge des Vertrags von Lausanne und der kemalistischen Politik. Die heutige kurdische Bewegung knüpfe an diesen historischen Widerstand an.

Auch Mele Şevket Çakır, Vorsitzender der CÎK, erinnerte an Şêx Seîds legendäres Zitat „Unsere Enkel werden unsere Rache nehmen“ – eine Haltung, die sich heute im ungebrochenen politischen Engagement der kurdischen Bevölkerung widerspiegle.

Frauen im Zentrum des Widerstands

Zübeyde Zümrüt, Ko-Vorsitzende der kurdischen Europadachverbands KCDK-E, würdigte insbesondere die Rolle der Frauen in der kurdischen Befreiungsbewegung. Die von Abdullah Öcalan geprägte Philosophie der „demokratischen Moderne“ habe nicht nur ein alternatives Gesellschaftsmodell formuliert, sondern auch eine emanzipatorische Perspektive für Frauen eröffnet.

Auch der Exil-Politiker Idris Baluken betonte die bleibende Bedeutung kollektiver Erinnerung: „Man versuchte, das Gedächtnis des kurdischen Volkes zu löschen – doch dieses Volk trägt seine Geschichte weiter. Der Aufstand von 1925 ist nicht Vergangenheit, sondern Teil einer lebendigen Gegenwart.“


Erklärung fordert Aufarbeitung und Rückgabe der Toten

Ein zentrales Element der Veranstaltung war die Verlesung der überarbeiteten Abschlusserklärung der Brüsseler Konferenz, die in den letzten beiden Tagen stattgefunden hatte. Darin wird insbesondere die weiterhin ungeklärte Lage rund um die Grabstätten von Şêx Seîd und seinen Gefährten kritisiert. Ein Jahrhundert nach den Hinrichtungen seien ihre sterblichen Überreste weder lokalisiert noch an die Familien übergeben worden – ein Zustand, der laut Erklärung nicht nur eine ethische, sondern eine menschenrechtliche Verletzung darstellt.

Das Konferenzpapier hebt hervor, dass die Geheimhaltung der Gräber Teil einer politischen Strategie sei, um kollektive Erinnerung zu unterdrücken und historische Persönlichkeiten zu entwürdigen. In diesem Zusammenhang wird auch an weitere Fälle erinnert – etwa die verschwundenen Grabstätten von Seyit Rıza (Dersim 1937) oder Bedîuzzeman Seîd Nûrsî (1960), deren letzter Wille bis heute ignoriert werde.

Forderungen an die Türkei

Die Initiator:innen rufen die türkische Regierung auf, konkrete Schritte zu unternehmen. Dazu gehört: Die Aufklärung über die Grabstätten zentraler kurdischer Persönlichkeiten, die Rückgabe der sterblichen Überreste an Angehörige, eine Reform des offiziellen Geschichtsnarrativs, insbesondere im Bildungswesen, sowie die Einrichtung unabhängiger Aufarbeitungskommissionen und vollständige Öffnung staatlicher Archive.

Die Erklärung betont, dass eine friedliche Lösung der kurdischen Frage nicht allein durch politische Verhandlungen möglich sei, sondern auch durch die Anerkennung und Aufarbeitung vergangener Traumata. „Frieden beginnt dort, wo die Würde der Toten geachtet wird“, heißt es darin.

Musik und Erinnerung als Abschluss

Den Abschluss der Veranstaltung bildeten musikalische Beiträge von Hozan Aydın und Dengbêj Maruf. Ihre Lieder erinnerten an den Widerstand von Şêx Seîd und riefen dazu auf, die kollektive Erinnerung lebendig zu halten. Die Kundgebung endete mit dem Appell: „Solange wir erinnern, bleibt der Widerstand lebendig. Gerechtigkeit für die Toten ist der erste Schritt zu Frieden für die Lebenden.“