NGOs beklagen systematische Missstände in türkischen Gefängnissen

Diskriminierung, Reue-Zwang, medizinische Vernachlässigung: Ein neuer Bericht zur Lage in türkischen Gefängnissen sieht im Strafvollzug ein System politischer Willkür – mit besonders dramatischen Folgen für politische, weibliche und staatenlose Gefangene.

631 schwerkranke Gefangene ohne medizinische Versorgung

Die Gefangenensolidaritätsorganisation MED TUHAD-FED und der Juristenverein ÖHD haben einen gemeinsamen Halbjahresbericht zu den Zuständen in türkischen Gefängnissen veröffentlicht. Der Report dokumentiert gravierende und systematische Verstöße gegen fundamentale Rechte von Inhaftierten. Demnach kämpfen derzeit über 600 schwerkranke Gefangene unter teils lebensbedrohlichen Bedingungen um ihre Gesundheit. Der Bericht wurde am Sonntag in Amed (tr. Diyarbakır) im Rahmen einer Pressekonferenz vorgestellt.

Rechtsbrüche müssen beendet werden

Die Vorstellung des Berichts, an der zahlreiche Menschenrechtsaktivist:innen und Jurist:innen teilnahmen, erfolgte durch Berivan Bekçi, Sprecherin der Gefängniskommission der Anwaltsvereinigung ÖHD. Zuvor hatte Serhat Çakmak als Ko-Vorsitzender der örtlichen ÖHD-Sektion betont, dass Gefängnisse derzeit zu den zentralen Orten der Rechtsverletzungen in der Türkei gehörten: „Die gesetzliche Lage, insbesondere in Bezug auf Herrn Abdullah Öcalan, wurde trotz zahlreicher Appelle nicht geändert. Die bestehenden Rechtsbrüche müssen beendet werden.“

Einzelfälle werden zur Systematik

Der Bericht spricht von einer „tiefen und strukturellen Menschenrechtskrise“ in den Haftanstalten des Landes. Die eingegangenen Beschwerden seien weder vereinzelte Vorfälle noch lokale Ausnahmen, sondern Ausdruck eines politisch gewollten Systems der Repression. „Die Missachtung grundlegender Rechte wie medizinische Versorgung, körperliche Unversehrtheit oder Zugang zu sozialen Aktivitäten ist keine Ausnahme mehr, sondern zur Regel geworden“, sagte Berivan Bekçi. Insgesamt verzeichneten MED TUHAD-FED und ÖHD allein im Berichtszeitraum über 3.500 Beschwerden aus 115 Gefängnissen.

Pressekonferenz von ÖHD und MED TUHAD-FED

Verweigerung medizinischer Versorgung

Ein zentraler Befund des Berichts betrifft die Versorgung schwerkranker Gefangener. Mindestens 631 dieser Gefangenen hätten sich aufgrund unzumutbarer Haftbedingungen an die Organisationen gewandt. Viele von ihnen würden medizinische Versorgung nicht erhalten, da sie sich weigerten, sich erniedrigenden Praktiken wie Nacktdurchsuchungen oder der Untersuchung in Handschellen zu unterziehen.

Zudem stelle das Institut für Rechtsmedizin (ATK) – eine dem Justizministerium unterstehende Behörde – häufig parteiische Atteste aus, mit denen selbst schwerkranken Gefangenen eine Haftunfähigkeit abgesprochen werde. Selbst bei gegenteiliger Einschätzung würden Gefangene nicht entlassen – unter dem Vorwand, sie stellten eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ dar.

359 Inhaftierte trotz abgesessener Haft nicht entlassen

Weitere gravierende Rechtsverstöße betreffen Gefangene, deren reguläre Haftzeit bereits abgelaufen ist. 359 politische Gefangene würden trotz vollständiger Verbüßung ihrer Strafe nicht freigelassen, da sie etwa keine „Reue“ gezeigt oder eine „schlechte Sozialprognose“ aufweisen würden. Diese Entscheidungen träfen intransparent arbeitende Verwaltungskommissionen der Vollzugsanstalten, die laut Bericht wie ein „paralleles Strafsystem“ funktionierten.

Staatenlose Gefangene und systematische Diskriminierung

Der Bericht beleuchtet auch die Lage von rund 200 Gefangenen aus Rojava (Westkurdistan/Syrien) und Rojhilat (Ostkurdistan/Iran), die aufgrund fehlender Staatsbürgerschaft grundlegender Rechte beraubt seien – etwa Rechtsbeistand, Familienbesuche oder Zugang zu konsularischem Schutz. Obwohl sie laut UN-Konventionen als besonders schutzbedürftig gelten, würden sie de facto rechtlos behandelt.

Frauen in Haft: doppelte Diskriminierung

In 16 Gefängnissen seien derzeit 327 Frauen inhaftiert, deren Rechte laut Bericht gleich doppelt verletzt würden: zum einen durch das männlich geprägte Strafvollzugssystem, zum anderen aufgrund ihrer politischen Identität. Insbesondere der Zugang zu Hygieneartikeln, Gesundheitsversorgung und das Recht auf Kontakt zu ihren Kindern würden willkürlich eingeschränkt. Der Bericht kritisiert das bestehende Strafsystem als „offen geschlechtsspezifisch und repressiv“ – insbesondere gegenüber politisch aktiven Frauen.

Isolationshaft: 400 Gefangene in Einzelzellen

Etwa 400 Gefangene mit lebenslanger Freiheitsstrafe würden unter extremen Isolationsbedingungen gehalten, oft über Jahre hinweg in Einzelzellen. Diese Praxis verletze nach Einschätzung der Organisationen nicht nur internationale Normen, sondern stelle eine „tiefgreifende Zerstörung der menschlichen Würde“ dar. Berivan Bekçi verwies auf die EGMR-Rechtsprechung (Vinter u. a. / Vereinigtes Königreich, 2013), wonach das „Recht auf Hoffnung“ ein zentraler Bestandteil menschenwürdiger Haft sei.

Recht auf Hoffnung, Recht auf Frieden

Der Bericht schließt mit einem Appell an Politik und Öffentlichkeit: „Ohne Gerechtigkeit in den Gefängnissen kann es keinen gesellschaftlichen Frieden geben.“ Die derzeitige Strafpraxis stehe im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Prinzipien und sei Ausdruck einer „rächenden, ausgrenzenden und feindlichen Straflogik“. Insbesondere im Hinblick auf den von Abdullah Öcalan initiierten Dialogprozess wird betont, dass ein Neuanfang bei den Haftbedingungen beginnen müsse: „Die Anerkennung von Grundrechten, die Abschaffung diskriminierender Sonderregelungen und ein Ende der Strafjustiz als Unterdrückungsinstrument sind Voraussetzungen für Frieden und Demokratie.“