Şêx-Seîd-Konferenz fordert Preisgabe geheimer Grabstätten

Ein Jahrhundert nach dem Aufstand von Şêx Seîd fordern kurdische Organisationen in Brüssel Aufklärung über verschwiegene Grabstätten und historische Gerechtigkeit. Die Ergebnisse der Konferenz mahnen: Ohne Erinnerung und Wahrheit ist kein Frieden möglich.

Abschlusspapier der Konferenz zu Geschichte, Erinnerung und kollektiver Rebellion

Das Abschlussdokument der internationalen Konferenz „Şêx Seîd und die Azadî-Gesellschaft: Geschichte, Erinnerung und kollektiver Protest“, die unter der Federführung des Nationalkongress Kurdistan (KNK), der Islamischen Gesellschaft Kurdistans (CÎK) sowie der kurdischen Institute in Deutschland und Belgien in Brüssel stattfand, ist veröffentlicht worden.

Im Fokus der Konferenz standen die politischen, kulturellen, literarischen und gesellschaftlichen Dimensionen des Aufstands von Şêx Seîd im Jahr 1925. In der verabschiedeten Erklärung fordern die Veranstalter unter anderem die Einrichtung von Mechanismen, die eine gesellschaftliche Aufarbeitung ermöglichen und den Weg zu dauerhaftem Frieden ebnen sollen.

Aufarbeitung des Aufstands von 1925

Das Abschlussdokument rückt die bis heute unbekannten Grabstätten von Şêx Seîd und seiner 47 Mitstreiter in den Mittelpunkt. Deren Geheimhaltung sei nicht nur eine Verletzung der Rechte der kurdischen Bevölkerung, sondern ein Angriff auf das universelle menschliche Gewissen, so die Verfasser.

Folgende Themen wurden auf der Konferenz umfassend behandelt:

▪ Historischer, politischer und gesellschaftlicher Kontext des Aufstands von 1925

▪ Die politische Vision der Azadî-Gesellschaft und ihre Rolle im Aufstand

▪ Repressionsmaßnahmen und deren Nachwirkungen bis in die Gegenwart

▪ Der Prozess gegen Şêx Seîd und seine Mitstreiter sowie deren Hinrichtungen

▪ Bedeutung des Aufstands für das kollektive Gedächtnis der kurdischen Bewegung

▪ Erinnerungskultur rund um Widerstandspersönlichkeiten ohne Begräbnis


Kollektives Gedächtnis unterdrückt

Das Dokument hebt hervor, dass das Fehlen von Grabstätten nicht nur ein physischer, sondern auch ein symbolischer Akt der Auslöschung sei. Es behindere Trauerprozesse, verhindere kollektives Erinnern und diene der Unterdrückung historischer Identität.

Kritik richtet sich auch gegen die türkische Staatsführung, die trotz vorhandener Archive bislang keine Informationen über die Begräbnisorte veröffentlicht hat. Die Rückgabe der Überreste an die Angehörigen sei eine überfällige humanitäre Pflicht.

Systematische Praxis über Jahrzehnte

Die Erklärung weist darauf hin, dass die Praxis des „Grabraubs“ systematisch auf zahlreiche weitere historische Ereignisse ausgeweitet wurde. Erwähnt werden unter anderem die Massaker im Zîlan-Tal (1930) und in Sason (1935), die Hinrichtung von Seyîd Riza nach dem Dersim-Aufstand (1937), und der verschwundene Leichnam von Bedîuzzeman Seîd Nûrsî (auch Seîdê Kurdî), gestorben 1960 in Riha (tr. Urfa) und nach seiner dortigen Beisetzung von türkischen Militärs exhumiert und verschleppt. Diese Praktiken seien Teil einer bewussten Politik des Vergessens und der historischen Auslöschung.

Politische Forderungen an den türkischen Staat

Die Konferenzteilnehmer:innen rufen die Regierung der Türkei dazu auf, konkrete Schritte einzuleiten, darunter:

▪ Offenlegung der Grabstätten historisch bedeutsamer kurdischer Persönlichkeiten

▪ Rückgabe der sterblichen Überreste an die Familien

▪ Beendigung diffamierender Narrative in offiziellen Diskursen und im Bildungssystem

▪ Freigabe aller relevanten Archivbestände

▪ Einrichtung unabhängiger Gremien zur Wahrheitsfindung und Aufarbeitung

Friedenshürden und Zukunftsperspektiven

Die Verweigerung der historischen Aufarbeitung, so heißt es in der Erklärung weiter, stelle ein zentrales Hindernis für eine nachhaltige Aussöhnung zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bevölkerung dar. Wahre Versöhnung könne nur durch Anerkennung von Rechten und Wahrheiten, sowie durch ein würdiges Gedenken an Verstorbene gelingen.

Die derzeitige Phase des politischen Dialogs, insbesondere im Zusammenhang mit der kurdischen Bewegung unter Führung von Abdullah Öcalan, solle genutzt werden, um eine Abkehr von jahrzehntelanger Leugnung und Repression einzuleiten.

Aufruf zur Kundgebung in Köln

Zum Abschluss der Konferenz rief Mele Şevket Çakır, Vorsitzender der CÎK, zur Teilnahme an einer Großkundgebung am heutigen Sonntag in Köln auf. Diese bildet den Abschluss einer europaweiten Veranstaltungsreihe zum 100. Jahrestag des Aufstands von Şêx Seîd.