Brüssel: Konferenz zu Şêx Seîd und dem kurdischen Widerstand

In Brüssel hat eine internationale Konferenz zum 100. Jahrestag des Şêx-Seîd-Aufstands begonnen. Die zweitägige Tagung diskutiert historische Kontinuitäten, politische Verantwortung und die Rolle des Aufstands im heutigen kurdischen Freiheitsdiskurs.

Botschaft von Abdullah Öcalan an Konferenz

Anlässlich des 100. Jahrestags des Şêx-Seîd-Aufstands findet in der belgischen Hauptstadt Brüssel eine zweitägige internationale Konferenz zur historischen Bedeutung der Erhebung und ihrer Wirkung auf das kollektive Gedächtnis des kurdischen Volkes statt. Die Tagung unter dem Titel „100 Jahre Şêx-Seîd -Aufstand – Azadî-Bewegung, Erinnerung und kollektiver Widerstand“ wird von mehreren kurdischen Institutionen veranstaltet, darunter der Nationalkongress Kurdistan (KNK), die Islamische Gemeinschaft Kurdistans (CÎK) sowie die kurdischen Institute in Deutschland und Belgien.

Die Veranstaltung im Kulturzentrum Espace Magh begann mit der kurdischen Nationalhymne „Ey Reqîb“ und einer Schweigeminute. In seiner Eröffnungsrede erinnerte KNK-Vorsitzender Ahmet Karamus daran, dass der Aufstand von 1925 eine direkte Reaktion auf die politische Ausgrenzung der Kurd:innen durch den Vertrag von Lausanne gewesen sei.


Der Widerstand lebt in organisierterer Form weiter“

Karamus betonte, dass die kurdische Freiheitsbewegung heute auf einer strategisch gefestigten Grundlage agiere. „Unser Volk ist längst ein aktiver Akteur bei der Suche nach Lösungen in der Region geworden. Der Kampf, für den Şêx Seîd und seine Mitstreiter ihr Leben gaben, heute entschlossener denn je weitergeführt“, so Karamus.

CÎK-Vorsitzender Mele Şevket Çakır sprach von einem gebrochenen historischen Bündnis: Während die Kurd:innen im Übergang vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei Seite an Seite mit den Türk:innen gestanden hätten, sei ihre Unterstützung mit Repression beantwortet worden. Der Widerstand Şêx Seîds werde heute von der kurdischen Freiheitsbewegung weitergetragen. „Die Zeit der Verleugnung ist vorbei“, sagte Çakır.

Derviş Ferho vom Kurdischen Institut Belgien rief dazu auf, sich die Deutungshoheit über die eigene Geschichte zurückzuholen. „Lange wurde unsere Vergangenheit von außen beschrieben. Es ist an der Zeit, dass wir unsere Narrative selbst bestimmen.“

Mehmet Kasım Fırat, Enkel des kurdischen Aufständischen und Vorsitzender des in der nordkurdischen Metropole Amed (tr. Diyarbakır) ansässigen Şêx-Seîd-Vereins, betonte in einer Videobotschaft die Notwendigkeit politischer Einheit unter den Kurd:innen. „Hunderttausende sind gefallen. Unsere Einheit ist heute nicht nur eine politische Notwendigkeit, sondern auch eine moralische Verpflichtung gegenüber den Gefallenen.“


Öcalan: Şêx Seîd war Ausdruck kollektiver Würde

Ein zentrales Element der Konferenz war ein Grußwort des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan: „Die historische Realität, der wir in der Person Şêx Seîds gedenken, geht über einen bloßen Aufstand oder eine lokale Erhebung hinaus. Es handelt sich dabei um einen traditionsbasierten Existenzkampf des kurdischen Volkes, der tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis der kurdischen Gesellschaft hinterlassen hat. Dieser Widerstand stellt einen Aufruf dar – gespeist aus Glaube, Tradition und Willen – gegen ein ihm aufgezwungenes monistisches Gedankensystem.

Şêx Seîd trat in seiner Zeit als eine führende Persönlichkeit auf, die gesellschaftliche Verantwortung übernahm und dem gegen die kurdische Identität gerichteten Politik der Verleugnung mit Haltung begegnete. Die Erhebung, die sich in seiner Person verkörpert, war nicht nur ein politisches, sondern zugleich ein gesellschaftliches Aufbegehren. Sie war Ausdruck einer tief verwurzelten Loyalität der Kurd:innen gegenüber ihrer eigenen Wahrheit.

Die in den Gründungsjahren der Republik verfolgte zentralistische Einheitsideologie zielte darauf ab, die Existenz des kurdischen Volkes systematisch zu negieren. Şêx Seîd brachte diesen Widerstand mit den Worten „Wir forderten Gerechtigkeit, ihr gabt uns den Strang“ bis an den Galgen – ein klarer Beleg dafür, dass Wahrheit sich nicht dem Druck beugt. Sein berühmter Satz „Herr Staatsanwalt, wollten wir nicht gemeinsam ein Festmahl mit Lamm genießen?“ verdeutlicht die ihm gestellte Falle. Seine Worte „Meine Enkelkinder werden gewiss meine Rache nehmen“ wiederum stehen für die Hoffnung auf den Fortbestand des Widerstands durch kommende Generationen.

Ein weiterer zentraler Punkt ist: Wie jeder historische Widerstand, so trägt auch der Aufstand unter der Führung Şêx Seîds die Merkmale seiner Epoche. Ihn mit der heutigen Freiheitsbewegung in Beziehung zu setzen, erfordert nicht romantisierende Zuschreibungen, sondern eine kritische Reflexion mit dem Ziel, aus der Geschichte strukturelle Lehren zu ziehen und eine demokratische Kontinuität herzustellen.

Ich selbst habe dieses Erbe als Grundlage für die revolutionäre Transformation einer freien kurdischen Identität verstanden. Mein politisches Wirken zielt darauf ab, das bedeutungsvolle Widerstandserbe der Vergangenheit mit einem zukünftigen System zu verbinden, das auf Demokratie, Pluralität und gesellschaftlichem Frieden basiert. Erst in Verbindung mit dem heutigen Paradigma der Demokratischen Nation entfaltet die Linie Şêx Seîds ihre volle Bedeutung.

Ein freies kurdisches Selbstverständnis ist nur möglich durch Treue zur Geschichte, zur Kultur und zu den moralisch-politischen Werten des Volkes. Unsere Gesellschaft muss in dieser Hinsicht achtsam sein und das heilige Erbe ihrer historischen Führungspersönlichkeiten bewahren.

In diesem Sinne gedenke ich Şêx Seîd und seiner Gefährten mit Respekt, bekräftige meinen Willen, ihre Ideale auf dem Weg der Freiheit und Wahrheit fortzuführen und sende allen Konferenzteilnehmer:innen meine aufrichtigen Grüße mit dem Wunsch für eine erfolgreiche Veranstaltung.“


Konferenz wird fortgesetzt

Die Konferenz wurde mit einer audiovisuellen Präsentation zur Geschichte des Aufstands von 1925 fortgesetzt und soll am Samstag mit weiteren Vorträgen und Diskussionen enden. Am Sonntag findet zudem in Köln eine Kundgebung anlässlich des 100. Jahrestags des Aufstands und seiner Zerschlagung statt, zu der Teilnehmer:innen aus ganz Europa erwartet werden.

Der Aufstand des Şêx Seîdê Pîran

Der am 13. Februar 1925 im Dorf Pîran in Gêl (Eğil) bei Amed unter der Führung von Şêx Seîdê Pîran (dt. Scheich Said) ausgebrochene Aufstand machte den Anfang zahlreicher Rebellionen der Kurd:innen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die dem Prozess der türkischen Nationalstaatsbildung nach dem Fall des Osmanischen Reiches folgten und sich gegen die Verleugnung der kurdischen Existenz, dem Entzug der politischen Autonomie und die faschistische Türkisierungspolitik richteten.

Der Aufstand umfasste neben Amed auch die Regionen Xarpêt (Elazığ) und Çewlîg (Bingöl) und weitete sich im weiteren Verlauf auch auf andere Teile des kurdisch besiedelten Gebietes in der heutigen Türkei aus. Wenige Wochen später, am 26. März 1925, begannen türkische Militäreinheiten Luft- und Bodenangriffe auf vermutete Rückzugsorte von kurdischen „Aufständischen“, nachdem zunächst 25.000 Soldaten in die Region verlegt worden waren. Anfang April erreichte die Truppenstärke etwa 52.000 Mann: der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, mindestens 15.000 Menschen wurden getötet.

Ende April wurden Şêx Seîd und eine Vielzahl seiner Mitstreiter in Mûş gefasst. Ein Schwager des Geistlichen, der als Offizier im Osmanischen Reich gedient hatte, hatte sie verraten. Nach ihrer Überführung nach Amed wurden Şêx Seîd und 46 seiner Weggefährten am 28. Juni 1925 zum Tode verurteilt. Einen Tag später folgte die öffentliche Hinrichtung. Der türkische Staat weigert sich bis heute, den Ort ihrer Grabstätte preiszugeben.