Mehr als ein Jahr nach der Verurteilung
Die lange verzögerte, 32.000 Seiten umfassende Urteilsbegründung im umstrittenen Kobanê-Fall in der Türkei wurde veröffentlicht. Dies löste ein Berufungsverfahren aus und wirft neue politische Fragen auf, da kurdischen Spitzenpolitiker:innen jahrzehntelange Haftstrafen drohen, während sich Anzeichen einer möglichen politischen Entspannung abzeichnen.
Unter anderen sind die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, und weitere prominente Politiker:innen am 16. Mai 2024 im politisch brisanten Kobanê-Fall zu langen Haftstrafen verurteilt worden. Die gestern – über ein Jahr später – veröffentlichte Urteilsbegründung macht nun den Weg für ein Berufungsverfahren frei, dass die Zukunft, nicht nur der Inhaftierten, neu bestimmen könnte.
Das Kobanê-Verfahren
Der Fall geht auf die Proteste in Kobanê (der kurdisch-syrischen Stadt Kobanê) im Jahr 2014 zurück, als in der gesamten Türkei und Nordkurdistan Demonstrationen aus Solidarität mit den Kurd:innen im Kampf gegen den selbsternannten Islamischen Staat (IS) in Rojava ausbrachen. Die türkische Regierung warf der HDP-Spitze Anstiftung zur Gewalt vor. Das von Menschenrechtsgruppen heftig kritisierte sogenannte „Kobanê-Verfahren“ führte zu Gefängnisstrafen zwischen neun und 42 Jahren. 108 Politiker:innen standen vor Gericht, 24 von ihnen wurden zu Haft verurteilt.
Demirtaş, seinerzeit führender Oppositionspolitiker und Präsidentschaftskandidat, wurde zu 42 Jahren verurteilt. Yüksekdağ erhielt 32 Jahre und neun Monate. Wegen angeblicher „Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation“ – gemeint ist die PKK – wurden unter anderen auch folgende Politiker:innen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt: Ahmet Türk, ehemaliger Ko-Bürgermeister von Mêrdîn (tr. Mardin), und die ehemalige DBP-Vorsitzende Emine Ayna zu zehn Jahren, die kurdischen Politikerinnen Gültan Kışanak und Sebahat Tuncel zu zwölf Jahren, Ayla Akat Ata, ehemalige HDP-Abgeordnete, zu neun Jahren und neun Monaten, Ayşe Yağcı und Aynur Aşan zu neun Jahren.
Verzögerung widerspricht fairem Verfahren
Die Verzögerung der Urteilsbegründung hatte das Berufungsverfahren ein Jahr lang hinausgeschoben. Nach türkischem Recht kann dieses erst nach Veröffentlichung der vollständigen Urteilsbegründung fortgesetzt werden. Da das Dokument nun fertiggestellt ist, bleibt abzuwarten, ob es zu Wiederaufnahmeverfahren oder Strafminderungen kommen wird. Verteidigung und Menschenrechtsbeobachter:innen bezeichneten die Verzögerung als Verstoß gegen faire Prozessstandards. „Ein Urteil ohne Begründung ist ein Urteil ohne Gerechtigkeit“, sagte ein Anwalt der Verteidigung.
Während die Berufung beginnt, bleibt der Fall Kobanê ein Zündstoff für die Debatte über Rechtsstaatlichkeit und die Zukunft der kurdischen politischen Teilhabe in der Türkei.