Urteilsverkündung im Kobanê-Prozess

Nach über vier Jahren soll heute in Ankara das Urteil in einem politischen Mammutverfahren gegen den ehemaligen HDP-Vorstand verkündet werden. Oppositionelle sehen in dem Urteil einen Indikator für die weitere Entwicklung der Türkei.

Der Kampf um Kobanê und die Folgen

Im sogenannten Kobanê-Verfahren gegen den ehemaligen HDP-Vorstand und weitere Angeklagte in Ankara soll heute das Urteil verkündet werden. Angeklagt in dem Mammutverfahren sind insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und kurdischer Befreiungsbewegung, darunter der gesamte ehemalige Vorstand der HDP. Ihnen wird Mord in Dutzenden Fällen sowie „Aufwiegelung zum Aufstand“ und „Spaltung der Einheit und Integrität des Landes“ im Zusammenhang mit Protesten zwischen dem 6. und 8. Oktober 2014 gegen den Angriff der islamistischen Terrororganisation IS auf Kobanê vorgeworfen. Die Anklage stützt sich auf eine von der HDP am 6. Oktober 2014 gepostete Twitter-Nachricht. Darin wurde zu demokratischen Protesten in Solidarität mit der Bevölkerung von Kobanê in Nordsyrien aufgerufen. Die Generalstaatsanwaltschaft fordert erschwerte lebenslange Haftstrafen ohne Aussicht auf Entlassung.

Politische Justiz

Dass es sich um einen politischen Prozess handelt, ist allen Beteiligten klar. Oppositionelle sehen in dem Urteil einen Indikator für die weitere Entwicklung der Türkei. In einem Anfang der Woche veröffentlichten Appell erklärten Akademiker:innen, Jurist:innen, Schriftsteller:innen und Künstler:innen, dass die Bevölkerung nach den Kommunalwahlen im März eine politische Entspannung erwartet und Frieden und Ruhe fordert. Die Voraussetzung dafür sei „die Umwandlung der Justiz von einer der politischen Autorität unterstellten Institution in eine unabhängige Institution, die im Einklang mit dem Rechtsstaatsprinzip der Verfassung Recht spricht. In diesem Zusammenhang stehen wir kurz vor einer Entscheidung, die die Zukunft des Landes beeinflussen wird. Das Urteil im Kobanê-Prozess wird ein Indikator dafür sein, ob die Regierung das Prinzip einer unabhängigen Justiz respektieren wird oder nicht.“ Der Appell wurde von 159 Persönlichkeiten unterzeichnet.

Seit über sieben Jahren in Untersuchungshaft

Viele der Angeklagten sind seit November 2016 im Gefängnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stuft ihre Verhaftung als politisch motiviert ein und hat mehrmals ihre Freilassung angeordnet. Das Ministerkomitee des Europarates hat zuletzt im März die Freilassung der ehemaligen HDP-Abgeordneten gefordert. Die Türkei ignoriert diese Entscheidungen.

Bei den inhaftierten Angeklagten handelt es sich um die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sowie um Gültan Kışanak, Sebahat Tuncel, Alp Altınörs, Ayka Akat Ata, Ali Ürküt, Ayşe Yağcı, Bülent Barmaksız, Dilek Yağcı, Günay Kubilay, İsmail Şengül, Meryem Adıbelli, Nazmi Gür, Pervin Oduncu, Zeynep Karaman, Aynur Aşan und Zeynep Ölbeci.

Hintergrund: Die Kobanê-Proteste von 2014

Während der PKK-Begründer Abdullah Öcalan mit dem türkischen Staat über eine Lösung der sogenannten kurdischen Frage verhandelte, ging der IS im Irak und in Syrien in die Offensive. Am 3. August 2014 fielen IS-Dschihadisten in Şengal ein und begingen einen Völkermord an der ezidischen Gemeinschaft. Der Angriff auf Kobanê begann am 13. September 2014. In den viereinhalb Monaten, bis der IS am 26. Januar 2015 aus Kobanê vertrieben wurde, wurden 70 Prozent der Stadt zerstört.

Der IS rückte Schritt für Schritt auf Kobanê vor. Die Türkei hielt den Grenzübergang Mürşitpınar weiterhin geschlossen. Um das Embargo gegen Rojava zu beenden, fanden bereits seit August Mahnwachen an der Grenze statt. Im September gab es erste Demonstrationen, auf denen ein Korridor nach Kobanê gefordert wurde. Anfang Oktober, als der ungebremste IS-Vormarsch näherrückte und die Belagerung verschärft wurde, kamen Tausende Menschen aus vielen Orten der Türkei nach Pirsûs (tr. Suruç) und forderten Solidarität mit Kobanê ein.

Am 1. Oktober trafen die HDP-Abgeordneten Selma Irmak und Selahattin Demirtaş mit dem damaligen Premierminister Ahmet Davutoğlu zusammen. Davutoğlu erklärte sich bereit, die Aufhebung der IS-Belagerung von Kobanê zu unterstützen und Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden. Am 4. Oktober bat PYD-Vorsitzende Salih Muslim die Regierung in Ankara, einen Korridor für militärische Unterstützung aus anderen kurdischen Kantonen nach Kobanê über türkisches Territorium zu öffnen. Er erhielt keine Antwort auf seine Bitte.

In der Nacht zum 5. Oktober rief Salih Muslim die internationale Gemeinschaft zu Aufmerksamkeit und Solidarität auf und erklärte, dass sich der IS dem Zentrum von Kobanê nähere. Der Kreis wurde immer enger. Das entscheidende Datum war der 6. Oktober, als IS begann, über den Miştenur-Hügel in die Stadt einzudringen. Kobanê erlebte die blutigsten Kämpfe seiner Geschichte. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit wurde ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübt.

Angesichts dieser Entwicklungen trat der Vorstand der HDP am 6. Oktober zusammen und beschloss, Kobanê zu unterstützen. In einer Erklärung wurde festgestellt, dass sich Kobanê in einer sehr kritischen Situation befindet und die Embargohaltung der AKP-Regierung gegenüber der belagerten Stadt sowie der IS-Angriff verurteilt werden. Am Ende der Erklärung hieß es: „Wir rufen unsere Völker auf, auf die Straße zu gehen, um zu protestieren und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf die Straße gegangen sind.“ Zu diesem Zeitpunkt fanden bereits massive Proteste statt, ohne dass die HDP dazu aufgerufen hatte.

Am 6. Oktober besuchte Mehmet Öcalan seinen Bruder Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali und gab nach seiner Rückkehr eine Erklärung ab, in der er „Widerstand bis zum Ende“ ankündigte. Nach der HDP riefen auch zivilgesellschaftliche Organisationen, Gewerkschaften, Anwaltskammern, Akademiker:innen und Aktivist:innen zur Solidarität mit Kobanê auf, Hunderttausende Menschen gingen in der Türkei auf die Straße.

Die Proteste wurden mit brutaler Gewalt von der Polizei angegriffen. Die Aggressivität der ersten Intervention gegen die protestierenden Menschenmassen bestimmte auch das weitere Geschehen auf der Straße: Der Staat griff mit Wut und Feindseligkeit an. Sogar gegen die Menschen, die das Geschehen in Kobanê seit Tagen an der Grenze in Pirsûs beobachteten, wurden Wasserwerfer und Tränengas eingesetzt.

Innerhalb von zwei Tagen weiteten sich die Proteste viel stärker aus als erwartet. Bei den Auseinandersetzungen auf der Straße tauchten Sondereinheiten auf, die den paramilitärischen Strukturen der neunziger Jahre ähnelten. Zivilist:innen wurden gezielt getötet oder verstümmelt. Der damalige Innenminister Efkan Ala erklärte: „Es gibt Sicherheitskräfte, die wir nicht kontrollieren können.“

Nach den ersten Toten wurden Ausgangssperren verhängt. Das Innenministerium setzte sich mit der HDP in Verbindung, und die HDP forderte eine Einstellung der Proteste, um weitere zivile Opfer zu verhindern. Im Wissen um den Einfluss von Abdullah Öcalan, der zwei Tage zuvor mit seinem Bruder gesprochen hatte, schickte der Staat am 8. Oktober einen Bevollmächtigten nach Imrali. Am nächsten Morgen wurde in Amed (Diyarbakir) ein Aufruf von Abdullah Öcalan verlesen, mit dem die Gewalt endete.

Nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD kamen bei den Kobanê-Protesten in der Türkei 46 Menschen ums Leben, 682 Personen wurden verletzt und 323 Personen wurden verhaftet. Weltweit gingen Millionen Menschen in einer einzigartigen Solidaritätswelle auf die Straßen, um Unterstützung für die Verteidigung Kobanês einzufordern. Der 1. November 2014 wurde zum Welt-Kobanê-Tag erklärt.