GfbV: Vielfalt in Syrien wird Schritt für Schritt vernichtet

Die Gesellschaft für bedrohte Völker schlägt Alarm: Seit dem Machtwechsel in Syrien nehmen Gewalt und Diskriminierung gegenüber Minderheiten drastisch zu. Unterstützt durch Ankara, Katar und andere Golfstaaten bestimmen Islamisten das politische Geschehen

Sechs Monate nach dem Sturz von Assad

Ein halbes Jahr nach dem Sturz des syrischen Langzeitmachthabers Baschar al-Assad warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) eindringlich vor einem „Verschwinden der Vielfalt“ in Syrien. Laut dem GfbV-Nahostreferenten Dr. Kamal Sido sehen sich ethnische und religiöse Minderheiten zunehmender Verfolgung durch islamistische Gruppierungen ausgesetzt, die inzwischen weite Teile des Landes kontrollieren.

„Die neuen Machthaber unter Ahmed al-Scharaa machen kaum transparente Angaben zur Zukunft Syriens“, erklärte Sido gestern in Göttingen. Während viele auf Demokratisierung hofften, nehme die Islamisierung des Landes und die Gewalt dramatisch zu – vor allem auf Kosten der Minderheiten.

Türkischer Einfluss weitreichend

Sido reiste im April durch nahezu alle syrischen Provinzen, ohne Kenntnis der neuen Machthaber in Damaskus (siehe Interview). In vertraulichen Gesprächen mit Angehörigen und Vertreter:innen von Minderheiten wie Kurd:innen, Drus:innen, Alawit:innen oder Christ:innen zeichneten sich alarmierende Tendenzen ab. Besonders kritisch bewertet Sido den wachsenden Einfluss der Türkei in Syrien. Mit Ausnahme des Nordostens sowie der drusischen Gebiete im Süden stehe das Land erkennbar unter türkischer Kontrolle.

Zerstörte kurdische Gräber auf einem Friedhof in der türkisch besetzten Region Afrin - April 2025 - Quelle: Dr. Kamal Sido | GfbV

„In den von der Türkei besetzten Gebieten wie Afrin oder Idlib wird nur noch mit türkischer Währung oder Dollar gehandelt. In Afrin sieht man überall türkische Flaggen, nicht nur auf Verwaltungsgebäuden, sondern auch an Checkpoints“, berichtete Sido. Zudem kontrolliert die Türkei die Mobilfunknetze im ganzen Land sowie die sozialen Medien. „Aus diesem Grund haben mir Fachleute während meines Aufenthalts zur Vorsicht bei der Kommunikation mit Gesprächspartnern geraten”, so Sido.

Kurdische Friedhöfe in Afrin zerstört

Während historische Stätten osmanischer Prägung von der Türkei restauriert und großflächig mit türkischen Fahnen geschmückt werden, etwa Gräber osmanischer Soldaten in der Nähe des Mausoleums des kurdischen Feldherren Saladin in Damaskus – sind kurdische Friedhöfe und Gräber in Afrin (auch Efrîn) vollständig zerstört worden. Vor diesem Hintergrund wollen die Kurd:innen und Drus:innen ihre Autonomie „in keinem Fall“ aufgeben, betonte Sido. Sie misstrauten den islamistischen Milizen, die nun in Damaskus an der Macht sind, und setzten nach wie vor auf Selbstverwaltung. Im Autonomiegebiet Nord- und Ostsyriens (DAANES) sowie in drusischen Regionen im Süden halten sich föderale Strukturen, wenn auch unter Druck. Nach den Massakern an der alawitischen Gemeinschaft an der syrischen Küste im März sind nun vermehrt Angriffe auf Drus:innen zu verzeichnen.

Föderales Modell die einzige Chance für Stabilität

Sido verweist auf zentrale Akteur:innen, die einen föderalen Weg für Syrien fordern: Der drusische Religionsführer Sheikh Hikmat al-Hijri und Mazlum Abdi, Generalkommandant der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), sehen in einem föderalen Modell die einzige Chance für Stabilität. „Die deutsche Politik und die Medien sollten diese Forderung unterstützen, wenn sie ein islamistisches Regime in Syrien verhindern wollen“, so Sido.

Externe Einflussnahmen durch Katar und Türkei

Besorgniserregend sei zudem die finanzielle und logistische Unterstützung islamistischer Gruppen durch Katar und andere Golfstaaten. „Mir wurde aus Jerusalem berichtet, dass in Abstimmung mit der Türkei gezielt Gelder an Politiker, Journalisten und Denkfabriken fließen, um eine islamismusfreundliche Linie in der Region zu begünstigen“, sagte Sido.

Vielfalt unter Bedrohung

Für viele Angehörige von Minderheiten sei das Syrien nach Assad nicht sicherer, sondern gefährlicher geworden, resümiert die GfbV. Ohne internationalen Druck drohe eine weitere Radikalisierung – und damit die endgültige Zerstörung des einst multiethnischen und multireligiösen Mosaiks des Landes.

Titelfoto: Frisch renovierte osmanische Gräber mit türkischen Flaggen in Damaskus - April 2025 - Quelle: Dr. Kamal Sido | GfbV