Dr. Nisan Alıcı: Eine Übergangsjustiz muss nicht auf Frieden warten

Die Übergangsjustizforscherin Nisan Alıcı erläutert, warum Mechanismen zur Aufarbeitung staatlicher Gewalt nicht an einen Friedensvertrag gebunden sind – und weshalb politischer Wille sowie zivilgesellschaftliches Engagement entscheidender denn je sind.

Gerechtigkeit im Schwebezustand: Übergangsmechanismen vor dem Friedensschluss

Die Diskussion um Übergangsjustiz und gesellschaftliche Versöhnung gewinnt in der Türkei im Kontext einer möglichen politischen Lösung der kurdischen Frage erneut an Bedeutung. Angesichts ausbleibender Friedensvereinbarungen stellt sich die Frage, ob und wie Prozesse der juristischen wie auch gesellschaftlichen Aufarbeitung dennoch eingeleitet werden können. Dr. Nisan Alıcı, Wissenschaftlerin an der britischen Universität Derby und Mitglied des Forschungsnetzwerks DEMOS (Research Association for Democracy, Peace and Alternative Politics), befasst sich seit Jahren mit der Frage, wie Übergangsjustiz in autoritären Kontexten implementiert werden kann. Im Interview analysiert sie die historischen Erfahrungen der Türkei, skizziert bestehende Handlungsspielräume und unterstreicht die zentrale Rolle zivilgesellschaftlicher Akteur:innen bei der Einforderung von Wahrheit und Gerechtigkeit.

Zur Einordnung: Was genau versteht man unter dem Begriff „Übergangsjustiz“?

Dieser Begriff beschreibt ein Ensemble von Mechanismen, die von Gesellschaften genutzt werden, die sich von einem Zustand des bewaffneten Konflikts hin zu Frieden oder von autoritären beziehungsweise diktatorischen zu demokratischen Regierungsformen bewegen. Ziel ist es, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und die in der Konfliktzeit begangenen Verbrechen juristisch wie auch gesellschaftlich aufzuarbeiten. Dabei handelt es sich um ein umfassendes Instrumentarium, das neben juristischen Verfahren – wie strafrechtlicher Verfolgung – auch konsensorientierte Maßnahmen wie Wahrheitskommissionen beinhaltet, die möglicherweise Elemente der Vergebung sowie der kollektiven Heilung und Wiedergutmachung umfassen. Jedes Land passt diese Mechanismen den spezifischen Bedingungen seines Konflikts an und implementiert sie entweder vollständig oder in Teilen.

In der Türkei existiert aktuell kein unterzeichneter Friedensvertrag. Es gibt lediglich Initiativen seitens der PKK, jedoch keine dauerhaften Schritte der Regierung. Ist ein formeller Friedensvertrag eine Voraussetzung für Übergangsjustiz?

Diese Frage steht im Zentrum meiner Dissertation und ist auch Thema meines demnächst erscheinenden Buches. Bisher wurde Übergangsjustiz meist im Anschluss an Friedensverträge implementiert – ein Beispiel hierfür ist Kolumbien, wo entsprechende Mechanismen detailliert im Friedensvertrag festgelegt wurden. Dennoch ist zunehmend zu beobachten, dass auch in Abwesenheit eines formellen Friedensvertrags – ja selbst während andauernder Konflikte – Teilschritte in Richtung Frieden gegangen werden. In solchen Kontexten wurden bereits einzelne Mechanismen der Übergangsjustiz angewandt. Meist handelte es sich dabei um juristische Verfahren, doch auch zivilgesellschaftlich initiierte Instrumente kamen zur Anwendung.

Dr. Nisan Alıcı © privat

Welche alternativen Mechanismen gibt es konkret?

Ein Beispiel in der Türkei wäre das im Jahr 2004 in Kraft getretene sogenannte „Entschädigungsgesetz“, das – wenn auch unvollständig und erfolglos – als ein Versuch gewertet werden kann. Eine weitere zivilgesellschaftliche Initiative war die Kommission zur Erforschung der Wahrheit über das Gefängnis von Diyarbakır, die unter der Federführung der 78er-Initiative gegründet wurde. Diese Kommission, die zwischen 2007 und etwa 2011 tätig war, sammelte rund 500 Zeugenaussagen von ehemaligen politischen Gefangenen und arbeitete nahezu wie eine vollständige Wahrheitskommission – ohne jegliche gesetzliche Grundlage oder offiziellen Friedensprozess.

Heute sind die strukturellen Voraussetzungen für solche Prozesse deutlich günstiger. Zur Frage zurück: Ja, ich bin der Auffassung, dass Mechanismen der Übergangsjustiz auch ohne einen Friedensvertrag umgesetzt werden können. Ein Beispiel ist die Frage der gewaltsamen Verschwundenen. Selbst wenn einige mutmaßliche Täter vor Gericht standen, endeten viele Verfahren in Freisprüchen oder blieben folgenlos – die Straflosigkeit besteht fort. Aktuell ist zu beobachten, dass die Forderungen nach Gerechtigkeit in diesem Bereich wieder lauter werden. Es könnten Verfahren gegen die Täter eingeleitet, eingestellte Akten neu geprüft und alte Verfahren wieder aufgenommen werden – dafür bedarf es keines Friedensvertrags. Ein solcher Schritt wäre ein konkreter Beitrag zur Gerechtigkeit, würde den betroffenen Familien Hoffnung geben und das Vertrauen stärken, dass sich derartige Verbrechen nicht wiederholen.

Ein weiteres Beispiel wäre die Einrichtung einer Wahrheitskommission. Wenn Betroffene, Überlebende oder Angehörige von Verschwundenen dies fordern, könnte ein solches Gremium beispielsweise durch das Parlament oder andere Wege ins Leben gerufen werden. Ein Friedensvertrag ist hierfür nicht zwingend notwendig – wohl aber ein politischer Wille. Zudem müsste die Zivilgesellschaft deutlicher und lauter artikulieren, dass ein Bedarf an Übergangsjustiz besteht und möglicherweise auch Vorschläge für deren Ausgestaltung machen. Dies ist auch ein Thema, das wir bei DEMOS diskutieren: Wie kann sich die Zivilgesellschaft in diesen Prozess einbringen?

Ein Wandbild in Istanbul zeigt Emine Ocak. Die 89-jährige Kurdin gilt als Symbol der Initiative der Samstagsmütter, die seit 30 Jahren Aufklärung über das gewaltsame Verschwinden von Personen in staatlichem Gewahrsam fordert. Es war Ocak, die die am längsten in der Türkei andauernde Aktion des zivilen Ungehorsams ins Rollen brachte, nachdem ihr Sohn Hasan an Newroz 1995 in Istanbul festgenommen und zu Tode gefoltert wurde.


In der Türkei wird seit langem ein breiter Kampf um Gerechtigkeit geführt, getragen von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Tatsächlich arbeiten zahlreiche Institutionen eng mit Betroffenen – etwa Angehörigen von Verschwundenen, Folteropfern oder Vertriebenen – zusammen. Vor diesem Hintergrund sollte die Zivilgesellschaft klären, welche Mechanismen hier besonders geeignet sind und einen entsprechenden Fahrplan vorlegen. Wird etwa eine Wahrheitskommission gegründet, so könnten Empfehlungen zu deren thematischer Fokussierung, zum zeitlichen Rahmen, zur personellen Besetzung und zur Arbeitsweise formuliert werden.

Ein vergleichbarer Prozess wurde bereits zwischen 2013 und 2015 während des Dialogprozesses zwischen Abdullah Öcalan und der Regierung erlebt. Doch die Bedingungen haben sich seitdem stark verändert. Wie ist dieser Zeitraum im Vergleich zu heute einzuordnen?

Die von mir erwähnte Wahrheitskommission entstand bereits 2007 – also noch vor dem eigentlichen Prozess damals. Betrachtet man die Jahre vor 2013, so war dies eine Zeit, in der die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – etwa im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armenier:innen oder der kurdischen Frage – deutlich intensiver geführt wurde. Damals war das gesellschaftliche Klima offener, die Zivilgesellschaft aktiver, und es gab mehr Raum für erinnerungspolitische Debatten.

Auch während des offiziellen Friedensprozesses nahm die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu. In öffentlichen Diskussionsrunden etwa wurde die Frage gestellt, ob sich eine Wahrheitskommission ausschließlich der kurdischen Frage widmen solle oder ob auch die armenische Frage einzubeziehen sei. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteur:innen positionierten sich öffentlich zu diesen Fragen.

Seitdem hat jedoch das autoritäre Regime die Zivilgesellschaft und das politische Leben stark eingeschränkt. In der Folge sind die Stimmen, die Gerechtigkeit und Aufarbeitung fordern, weitgehend verstummt. Bis vor Kurzem war nicht einmal klar, ob überhaupt ein Friedensprozess existiert. Unter diesen Bedingungen wurden Forderungen nach Übergangsjustiz kaum laut.

Heute zeichnet sich jedoch eine neue Dynamik ab: Die Diskussion über die Einrichtung einer parlamentarischen Kommission hat begonnen, und die Themen werden konkreter. Auch die Forderungen nach Gerechtigkeit und Aufarbeitung gewinnen wieder an Sichtbarkeit. Ich befinde mich derzeit in Amed (tr. Diyarbakır) und nehme wahr, dass diese Themen hier wieder stärker diskutiert werden. In den kommenden Wochen und Monaten dürfte sich die Einsicht durchsetzen, dass ohne Gerechtigkeit kein dauerhafter Frieden möglich ist.

Dabei handelt es sich um einen langfristigen Prozess, der sich über viele Jahre erstrecken wird.

Wenn der Friedensprozess fortgesetzt wird und die Gewalt tatsächlich dauerhaft endet, eröffnet sich ein langer Zeitraum für die Auseinandersetzung mit zentralen Themen wie Verlust, Trauma, Rückführung von Leichnamen, Bestattungen und kollektiver Trauer. All dies sind Aspekte, die im Rahmen der Übergangsjustiz behandelt werden müssen.

Führen Sie derzeit eine Feldforschung in Amed zu diesen Themen durch?

Die aktuelle Forschung ist nicht direkt auf Übergangsjustiz ausgerichtet, sondern befasst sich mit ökologischer Zerstörung und Umweltfragen – gemeinsam mit einer Kollegin. Doch die politische Diskussion um den Friedensprozess ist so präsent, dass sie unsere Arbeit auf natürliche Weise berührt.

Dabei zeigt sich ein zentraler Punkt: Ökologische Zerstörung ist eine wesentliche Folge des bewaffneten Konflikts. Diese Problematik endet nicht mit dem Ende der Gewalt. Insbesondere die Entwicklungen in Şirnex (Şırnak), aber auch in Amed und Umgebung, verdeutlichen dies.

Ein weiteres Risiko ergibt sich aus internationalen Erfahrungen: Der Beginn eines Friedensprozesses führt dazu, dass die betroffenen Regionen für internationale Investitionen attraktiver werden. Dies kann zu einer verstärkten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen führen – also zu noch größerer ökologischer Zerstörung. Diese Gefahr muss Teil der künftigen politischen Diskussion sein. Es gilt, ihr entgegenzuwirken.