Die demokratische Gesellschaft als Weg für eine friedliche Lösung des „Gordischen Knotens“

Devriş Çimen zeichnet in einer Analyse die historische Entwicklung des kurdischen Widerstands nach. Der Text beleuchtet die Hintergründe, politischen Dimensionen und möglichen Perspektiven einer demokratischen Lösung für die kurdische Frage in der Türkei.

Über den Friedensaufruf Abdullah Öcalans und den seitdem andauernden Prozess

„Wenn es nötig ist, wenn ihre Existenz auf dem Spiel steht, wenn sie mit dem Verlust ihrer Freiheit und ihrer Würde konfrontiert sind, ist es für die Völker unvermeidlich, Widerstand zu leisten. Keine andere Methode als der Widerstand kann zur Bewahrung ihrer Existenz, ihrer Freiheit und ihrer Würde führen. Der Widerstand in Kurdistan war eine Methode der Verteidigung der Existenz noch vor der Freiheit und der Befreiung.“*

Welche Art von Unterdrückung, Assimilation, Vernichtung und Verleugnung ist notwendig, um einen Menschen oder eine kollektive Gesellschaft an den Punkt zu bringen, ihre eigene Existenz zu verleugnen? Denken Sie darüber nach, was einer Gesellschaft wie der kurdischen angetan wurde, um sie dazu zu bringen, sich für ihre eigene Identität zu schämen und diese sogar zu fürchten. Ich verlange kein Mitgefühl, ich möchte nur, dass Sie einen Moment darüber nachdenken. Das Leben im historisch als Kurdistan bezeichneten und mehrheitlich von Kurd:innen bewohnten Gebiet, insbesondere das innerhalb der Grenzen der 1923 gegründeten Republik Türkei, ist einer monistischen Staatsdoktrin (verankert in der Verfassung) unterworfen, die alles vom Türkentum Abweichende verleugnet. Es ist selbstverständlich, dass ein gesellschaftliches Kollektiv, in diesem Fall die kurdische Gesellschaft, eine solche Situation nicht einfach hinnehmen und ertragen kann.

Widerstandskampf für ein menschenwürdiges Leben

So begann Abdullah Öcalan in den 1970er Jahren seinen legitimen Kampf für eine Veränderung dieses historischen Unrechts und gegen die Tyrannei. Die Legitimität dieser Bemühungen ist auch in der Präambel der UN-Menschenrechtscharta verbrieft, wo explizit von einem Recht auf Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung als Ultima Ratio die Rede ist. Mit der Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) am 27. November 1978 begann der Kampf zur Überwindung der Vernichtung und Verleugnung des kurdischen Volkes. Wenig später, im Jahr 1984, begann ein Guerillakrieg, der von Millionen Kurd:innen unterstützt wurde. Unzählige Menschen erkannten darin eine Hoffnung auf eine Veränderung der Verhältnisse. Aller Schwierigkeiten und der Vernichtungskriegsführung der zweitgrößten NATO-Armee zum Trotz, wird dieser Kampf seit 47 Jahren ungebrochen fortgesetzt. Das kurdische Volk führt seither einen gerechten Widerstandskampf für ein menschenwürdiges Leben. Zehntausende haben ihr Leben für diese Ideale geopfert. Niemand hat das Recht, die Kurd:innen für ihren Kampf zu beschuldigen oder von ihnen Reue zu verlangen. Im Gegenteil, der türkische Staat muss sich mit seiner Vergangenheit der Verfolgung und Unterdrückung auseinandersetzen und sich beim kurdischen Volk entschuldigen. Dies ist allerdings ein wichtiger Schritt, der unternommen werden sollte, wenn die Bedingungen dafür gegeben sind.

Auf der Suche nach einer Lösung

In einem historischen Aufruf appellierte Abdullah Öcalan, der PKK-Vorsitzende und ohne Zweifel politisch bedeutendste Gefangene, am 27. Februar 2025 an die PKK, die Waffen niederzulegen, sich zu einem Kongress zu versammeln und die Selbstauflösung zu beschließen. Dieser Aufruf schlug hohe Wellen und führte zu intensiven Diskussionen in der Türkei und weltweit.

Öcalans Aufruf vom 27. Februar ist das Ergebnis monatelanger Vermittlungen, mehrerer Treffen mit Öcalan sowie von Briefen und Gesprächen, die eine Delegation der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM-Partei) mit verschiedenen politischen Akteuren des Konflikts führte.

Obwohl die Niederlegung der Waffen von der türkischen Regierung unter R. T. Erdoğan zur Bedingung gemacht wurde, hat die Suche nach einer Lösung des von Abdullah Öcalan als „gordischen Knoten“ bezeichneten Problems eine lange Vorgeschichte. Die Gründung der PKK 1978 und die Aufnahme des bewaffneten Kampfes 1984 sind keine Ursache, sondern eine Folge der Verleugnungs- und Assimilationspolitik des türkischen Staates.

Es wird allgemeinhin akzeptiert, dass diese Politik der Grund für enorme Unterstützung der kurdischen Gesellschaft für den Widerstand der PKK ist. Die Jahre, in denen die PKK entstand, fielen in eine Zeit zahlreicher nationaler Befreiungskämpfe weltweit. Sie entwickelte sich mit einem sozialistischen Parteiprogramm und wurde von den nationalen Befreiungskämpfen dieser Zeit beeinflusst. Auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker setzte sie sich das Ziel der Errichtung eines Nationalstaates. In seinem jüngsten Aufruf erklärte Öcalan, dass diese Zielsetzung auch stark vom damals weltpolitisch sehr präsenten Realsozialismus beeinflusst war. Doch der 1984 beginnende bewaffnete Kampf gewann entscheidend an Einfluss, als der Realsozialismus zusammenbrach. Die PKK wurde jedoch durch das Ende des Realsozialismus nicht geschwächt, sondern behielt ihre gesellschaftliche Basis und Zustimmung. Sie konnte diese sogar noch ausweiten, indem sie aufgrund ihrer Kritik am staatlichen Realsozialismus den Weg zu einem stärker gesellschaftsorientierten demokratischen Sozialismus in den Mittelpunkt ihres Kampfes stellte.

Die 1990er Jahre

Mit dem ersten Waffenstillstand im Jahr 1993 suchten Öcalan und die PKK (über verschiedene Vermittler) eine politische Lösung mit dem ebenfalls um eine Lösung bemühten türkischen Präsidenten Turgut Özal. Dieser starb jedoch unter verdächtigen Umständen genau an dem Tag, an dem er auf den Waffenstillstand reagieren wollte. Die Bemühungen um einen Waffenstillstand und eine Lösung wurden offensichtlich sabotiert. In diesem Vakuum wurde der Konflikt von den politischen Verantwortungsträgern der Türkei erneut auf die militärische Ebene verlagert. Die Entwicklungen der darauffolgenden Jahre richteten viel Zerstörung an und wurden als „schmutziger Krieg“ bezeichnet. Die Türkei wurde von der Militärpolitik vereinnahmt und die türkische Gesellschaft mithilfe der sogenannten „Sicherheitspolitik“ eingeschüchtert. Um der PKK den gesellschaftlichen Rückhalt zu entziehen, wurden in den 90er Jahren mehr als 4.000 kurdische Dörfer vom türkischen Militär zerstört. Tausende „unaufgeklärte“ (türkisch: faili meçul) Morde wurden verübt, Millionen Kurd:innen durch systematische ethnische Säuberungen nach Europa und in die Metropolen der Türkei vertrieben. Unzählige Massaker, Vergewaltigungen, Folterungen und Verhaftungen sind in den Dokumenten von Menschenrechtsorganisationen, u.a. der IHD, nachzulesen. Die Auseinandersetzung der türkischen Gesellschaft mit den Folgen dieses schmutzigen Krieges, der in ihrem Namen geführt wurde, ist einer der notwendigen Schritte auf dem Weg zu einer politischen Lösung. Denn diese erniedrigenden und unmenschlichen Praktiken gegen die Kurd:innen wurden von den militärischen, polizeilichen und paramilitärischen Kräften des Staates unter dem weitgehenden Schweigen der türkischen Gesellschaft durchgeführt. Die kurdische Frage wurde jedoch nicht gelöst. Der NATO-Mitgliedsstaat Türkei und sein Militärapparat konnten mit internationaler NATO-Unterstützung die Oberhand gewinnen. Dazu wurden alle möglichen Zugeständnisse politischer, wirtschaftlicher und geostrategischer Natur gemacht. Im Gegenzug wurde der Widerstandskampf der PKK in vielen Ländern kriminalisiert und durch die Listung als terroristische Organisation (zuerst in den USA und ab 2002 in der EU) verteufelt. Die internationale Gemeinschaft betrachtete die PKK allein durch die Brille des türkischen Nationalismus. Die Wahrheit wurde durch systematische Hetze und Antipropaganda in Medien und Politik bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, Opfer wurden zu Tätern gemacht und Täter zu Opfern. Dennoch hielt Öcalan an seiner Suche nach Ansprechpartnern in der türkischen Politik fest. Er versuchte mit großer Ausdauer das Problem mit politischen und friedlichen Mitteln zu lösen. Als dies nicht gelang, bemühte er sich sogar, die Angelegenheit auf die internationale Bühne zu bringen. Bevor er am 15. Februar 1999 im Rahmen eines internationalen Komplotts von NATO-Mitgliedern und Ländern wie den USA, Israel, Griechenland, Kenia, der Türkei und deren Geheimdiensten in Kenia in die Türkei verschleppt wurde, hielt er sich auf der Suche nach internationaler Unterstützung für eine politische Lösung monatelang in Italien, also in Europa auf.

Demokratischer Konföderalismus als Lösungsansatz

Wer glaubte, die PKK und Öcalan würden durch das Komplott seiner Verschleppung und durch seine Isolation auf der Gefängnisinsel İmralı geschwächt, hat sich getäuscht. Im Gegenteil, die PKK als Vorreiterin des Befreiungskampfes in Kurdistan hat auf der Grundlage der von Öcalan geschaffenen ideologischen, theoretischen und politischen Basis, die auch in Öcalans Gefängnisschriften nachzulesen ist, an Einfluss und Überzeugungskraft gewonnen.

Mit der Kritik an der zerstörerischen kapitalistischen Moderne entwickelte Öcalan auch einen Gegenentwurf, die aufbauende demokratische Moderne. Mit dem Projekt des demokratischen Konföderalismus (auf der Basis des demokratischen Sozialismus) zeigte er Perspektiven und Lösungsansätze für die Schaffung einer demokratischen, ökologischen und auf die Freiheit der Frau ausgerichteten Gesellschaft auf. Die kurdische Frauenbewegung spielt überall dort, wo sie organisiert ist, eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung des demokratischen Konföderalismus. Öcalans Formel „Jin, Jiyan, Azadî“, die sich durch alle seine Verteidigungsschriften zieht, steht nicht nur für Widerstand, sondern auch für den Willen, die Kraft und die Organisation zum Aufbau eines neuen demokratischen Systems jenseits des Patriarchats unter der Führung von Frauen. Mitte September 2022 begannen kurdische Frauen, denen sich später zehntausende Frauen im Iran anschlossen, eine Protestbewegung, die weltweit Aufsehen erregte. Auch die multiethnische und multireligiöse Demokratische Autonome Verwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) orientiert sich an den Ideen und dem theoretischen Rahmen Öcalans.

Damit beeinflusst er bis heute nicht nur Millionen Kurd:innen und zahlreiche politische Parteien und Bewegungen in der Türkei, Syrien, Irak und Iran, sondern bietet auch demokratische Lösungsansätze für den gesamten konfliktreichen Mittleren Osten und darüber hinaus – überall dort, wo Unterdrückung herrscht. Denn die Geschichte zeigt, dass die Gleichsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker mit der Gründung eines neuen Nationalstaates nicht zu einer Lösung führt, sondern zu den bestehenden Problemen nur ein weiteres hinzufügt. Die aktuellen Konflikte, die als Teil des heute stattfindenden Dritten Weltkriegs zu sehen sind, brauchen nicht noch mehr Waffen und Gewalt, sondern Dialog als Basis für den Raum der demokratischen Politik. Die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Demokratie erfordert in Kurdistan wie auch in anderen Regionen keine neuen Grenzen, sondern die Aufweichung und Überwindung eben dieser. Nicht der Staat soll, wie es in der Türkei und vielen anderen zentralistischen Nationalstaaten der Fall ist, die Gesellschaft dominieren und kontrollieren, sondern umgekehrt: Wenn die Gesellschaft ein demokratisches Bewusstsein und demokratische Strukturen entwickelt, kann sie auch den Staat demokratisch kontrollieren. Deshalb ist eine demokratische und friedliche Entwicklung auch eine Chance für die türkische Gesellschaft, ihren Staat durch Demokratisierung und demokratische Strukturen zu kontrollieren. Daher könnte Öcalans Kompromissformel „Demokratie plus Staat als allgemeine öffentliche Autorität“ in Zukunft als Grundlage dafür dienen, dass Kurd:innen und Türk:innen ihr Leben ohne gegenseitige Ausgrenzung im selben Gebiet leben können.

Friedensaufruf Öcalans als Ausdruck der Suche nach einer demokratischen Lösung

Vor diesem Hintergrund ist der Aufruf vom 27. Februar keine Überraschung, sondern Ausdruck einer jahrzehntelangen Suche nach einer demokratischen Lösung. Öcalan schreibt in der Erklärung weiter: „Die PKK, die längste und umfangreichste Aufstandsbewegung und bewaffnete Bewegung in der Geschichte der Republik, fand eine soziale Basis und Unterstützung und wurde in erster Linie durch die Tatsache inspiriert, dass die Kanäle der demokratischen Politik verschlossen waren.“ Und wenn nach Jahren des Widerstands, heute die PKK und ihre Waffen ein Hindernis dafür sind, „die Kanäle der demokratischen Politik zu öffnen“, dann ist der kurdische Befreiungskampf auch in der Lage, dieses Hindernis zu überwinden. Denn damit nehmen Öcalan und die PKK dem türkischen Staat den Grund und damit die „Waffe“ bzw. den Vorwand aus der Hand, eine gerechte, friedliche und demokratische Lösung zu ignorieren oder aus taktischen Gründen oder politischem Kalkül zu verzögern, wie im Falle des oben erwähnten ersten Waffenstillstands und des letzten Dialogprozesses in den Jahren 2012 – 2015. Spätestens nach Öcalans Aufruf ist jetzt der türkische Staat am Zug. Öcalan hat seine Forderung an eine Bedingung geknüpft: „Zweifellos erfordern die Niederlegung der Waffen und die Auflösung der PKK in der Praxis eine demokratische Politik und die Anerkennung der juristischen Grundlage.“

Öcalan zeigt die Reife seines Befreiungskampfes: gegebenenfalls dessen bisherigen Mittel – den bewaffneten Kampf und die Partei (PKK) – zu beenden und aufzulösen, ihn aber in einer neuen Form unter demokratisch entwickelten Bedingungen weiterzuführen. Es geht also nicht darum, den Befreiungskampf zu beenden, sondern seine Mittel und seine Form den Gegebenheiten entsprechend zu verändern.

Die PKK stimmte dem Friedensaufruf Abdullah Öcalans zu und verkündete noch am 1. März einen Waffenstillstand. Sie erklärte: „Als PKK erklären wir, dass wir den Inhalt des Aufrufs vollständig unterstützen und unsererseits alle erforderlichen Schritte einhalten und umsetzen werden.“

Unter extrem erschwerten Bedingungen kam die PKK zwischen dem 5. und 7. Mai zu ihrem 12. Parteikongress zusammen. Aufgrund der massiven türkischen Angriffe versammelten sich 232 Delegierte an zwei verschiedenen Orten. Die PKK erklärte, sie habe ihre historische Mission, die „Politik der Verleugnung und Vernichtung zu durchbrechen“ erfolgreich erreicht. Die kurdische Frage könne nun durch demokratische Politik gelöst werden. Daher habe der Kongress entschieden „die organisatorische Struktur der PKK aufzulösen und die Praxis des bewaffneten Kampfes zu beenden.“

Neues Staatsverständnis

Kommen wir noch einmal zurück zu Öcalans Gefängnisschriften, z.B. das im Jahr 2004 veröffentlichte Buch „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“, in dem er Lösungsansätze entwickelt. Darin schlägt er eine Neudefinition des in der Türkei und in ganz Kurdistan herrschenden Staatsverständnisses vor. „Besser wäre, sich auf einen schlanken Staat zu einigen, der lediglich Aufgaben zum Schutz der inneren und äußeren Sicherheit und zur Versorgung sozialer Sicherungssysteme wahrnimmt. Ein solches Staatsverständnis hat nichts mehr mit dem autoritären Charakter des klassischen Staates gemein, sondern entspräche dem Charakter einer gesellschaftlichen Autorität.“ In einer neu definierten demokratischen Republik Türkei würde das für die Kurd:innen den Genuss sämtlicher Bürgerrechte und -freiheiten bedeuten. Somit könnte ein demokratischer Raum geschaffen werden, in dem eine demokratische Gesellschaft (Türk:innen, Kurd:innenen und andere Ethnien im selben Land) ihre Identität verfassungsrechtlich abgesichert leben können. In demselben Buch fügt Öcalan hinzu: „Damit die Kurden als Volk die Republik anerkennen, muss die Republik sie als kulturelle Gruppe und als Träger von politischen Rechten anerkennen. Die Anerkennung muss also gegenseitig und auf der Grundlage gesetzlicher Garantien erfolgen.“ (Dies wird auch in dem aktuellen Appell hervorgehoben).

Die PKK stellte klar, dass der Kongressbeschluss kein Ende, sondern ein neues Stadium im Kampf um Freiheit, Demokratie und Sozialismus einläute. In der Erklärung heißt es, dass das kurdische Volk insbesondere die Frauen und die Jugend die Aufgaben der neuen Phase des demokratischen Kampfes und Selbstorganisierung für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft übernehmen werden.

Notwendigkeiten für einen Friedensprozess

Zur Umsetzung der Kongressbeschlüsse sei eine direkte Führung des Friedensprozesses durch Abdullah Öcalan notwendig. So seien die Anerkennung seines Rechts auf Beteiligung an demokratischer Politik und entsprechende juristische Garantien notwendig. Gleichzeitig sei eine Beteiligung des Parlaments und der außerparlamentarischen Kräfte und sozialer Bewegungen für den Friedensprozess entscheidend. Die Freilassung von Abdullah Öcalan wäre daher einer der wichtigsten Schritte, um diesen Prozess zu beschleunigen.

Das bedeutet, dass die praktische Umsetzung dieser Beschlüsse mit dem derzeitigen Rechtssystem der Türkei, dem antidemokratischen Verständnis, den autokratischen und willkürlichen Regierungen, den Anti-Terror-Gesetzen und der politischen Instrumentalisierung der Justiz nicht zu erreichen ist. Es sind rasche Veränderungen in Politik, Rechtssystem und Gesellschaft erforderlich. Die Anerkennung der Kurd:innen und anderer in der Türkei lebender ethnischer und religiöser Identitäten erfordert Demokratie, politisches Bewusstsein und Gerechtigkeit. Wenn der türkische Staat und die türkische Gesellschaft die von Öcalan angedeutete demokratische Transformation und Veränderung vollziehen, werden sie auch „demokratisch“, worauf sie seit ihrer Gründung verzichtet haben.

Nach Jahren der Isolation und 26 Jahren Haft beweist Öcalan mit seinem letzten Aufruf einmal mehr, dass er nach wie vor die Schlüsselfigur für einen gerechten Lösungsprozess in der Türkei ist, der auch in der Region großen Einfluss haben wird. Auf internationaler Ebene betonten Vertreter der UN, der USA, der EU, des Vereinigten Königreichs, Deutschlands und vieler anderer Länder in Erklärungen die Bedeutung des Aufrufs Öcalans und der nachfolgenden Beschlüsse der PKK als wichtige Schritte zur Lösung der kurdischen Frage. Es darf aber nicht nur bei Erklärungen bleiben. Stattdessen muss die Türkei zu einer Demokratisierung und friedlichen Lösung ermutigt werden. Die bisherigen Reaktionen auf den Aufruf Öcalans von Vertretern der politischen Landschaft der Türkei, darunter Staatspräsident Erdoğan und sein Regierungspartner Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), aber auch Vertreter der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP), enthalten positive Signale. In diesem Zusammenhang hat sich Bahçeli am 18. Mai in einer Mitteilung für eine überparteiliche Kommission im Parlament ausgesprochen, die eine Strategie erarbeiten soll. Der parlamentarische Ausschuss solle unter der Leitung des Parlamentspräsidenten stehen und aus 100 Mitgliedern bestehen. Neben Mitgliedern aller im Parlament vertretenen Parteien sollen auch parteiunabhängige Expertinnen beteiligt werden. Doch sowohl Bahçelis Rhetorik als auch die anderer politischer Vertreter enthält noch immer den alten obrigkeitlichen Ton. Dies gilt auch für Erdoğans Erklärung vom 22. Mai. Demnach könne die Gesellschaft nicht auf der Grundlage einer von den Putschisten geschriebenen Verfassung „vereint“ werden. (Die aktuell gültige Verfassung wurde schließlich nach dem Militärputsch von 1980 unter der Regie des Militärs verfasst. Die Verfassung aus der Zeit der Republikgründung wurde unter der Prämisse einer besonderen Betonung des Türkentums neu verfasst.) Erdoğan unterstrich dabei die Notwendigkeit und Bereitschaft, eine neue Verfassung auszuarbeiten. Gleichzeitig sagte er, man habe kein Problem mit den ersten vier Artikeln der Verfassung. Das Grundproblem liegt jedoch genau in diesen ersten vier Artikeln, die die zahlreichen ethnischen Identitäten – darunter Kurd:innen – außer der türkischen ignorieren und leugnen. Doch die Rechte der Kurd:innen und anderer ethnischer Identitäten – ob sozial, kulturell oder politisch – dürfen und können nicht ignoriert werden. Wenn wir das Problem von der Wurzel her betrachten, dann sind die PKK und der politische Kampf der Kurd:innen nicht die Ursache, sondern die Folge dieser antidemokratischen und autokratischen Staatsdoktrin.

Die Organisierung als demokratische Gesellschaft und die damit verbundene Bereitschaft der kurdischen Seite, auf eine Lösung und Frieden hinzuarbeiten, sowie die bisherigen Schritte in diese Richtung werden von den Staatsvertretern mit dem für die Türkei traditionellen Obrigkeitsdenken behandelt. Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, ob die Türkei tatsächlich einen ernsthaften Weg der Demokratisierung und friedlichen Lösung einschlägt oder ob althergebrachtes Obrigkeitsdenken die Praxis bestimmen wird.

aus dem 5. Band (türk. Titel: Kürt Sorunu Ve Demokratik Ulus Çözümü – Kültürel Soykırım Kıskacında Kürtleri Savunmak) von Öcalans „Manifest der demokratischen Zivilisation“ (2010); dieser Band ist noch nicht auf Deutsch erschienen.


Titelbild © Ali Zülfikar „Cry for Freedom“