Türkdoğan: „Wir befinden uns noch in der Phase des negativen Friedens“

Öztürk Türkdoğan (DEM) bewertet das 10. Justizpaket als unzureichend. Trotz kleiner Fortschritte bleibe eine grundlegende Reform aus. Eine gesetzlich abgesicherte Entwaffnung sei unerlässlich, um in die nächste Etappe einer politischen Lösung überzugehen.

Justizpaket der AKP unzureichend

Der Menschenrechtsanwalt Öztürk Türkdoğan sieht in der aktuellen rechtspolitischen Entwicklung in der Türkei keinen strukturellen Wandel. Im Gespräch mit ANF kritisiert er das kürzlich von der Regierungspartei AKP mit Unterstützung der ultranationalistischen MHP in die türkische Nationalversammlung eingebrachte 10. Justizpaket als verpasste Chance für tiefgreifende Reformen im Strafvollzug und in der Behandlung politischer Gefangener. Die türkische Regierung sende widersprüchliche Signale, obwohl Dialogkanäle wieder geöffnet seien. Türkdoğan, der stellvertretender Ko-Vorsitzender der Kommission für Recht und Menschenrechte der DEM-Partei ist, fordert die Einhaltung menschenrechtlicher Standards, die Gleichbehandlung politischer Gefangener und konkrete gesetzgeberische Maßnahmen zur Absicherung eines nachhaltigen Friedensprozesses.

Die Regierung hat durch Ankündigungen rechtlicher und gesetzlicher Reformschritte gesellschaftliche Erwartungen geweckt. Inwiefern erfüllt das vorgelegte 10. Justizpaket diese Erwartungen?

Der nach dem „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ eingeleitete Prozess verläuft unter der Leitung und mit Wissen von Herrn Abdullah Öcalan. Diese Besonderheit prägt die gesamte Dynamik. Der Prozess hat einen bestimmten Reifegrad erreicht, insbesondere nachdem die PKK ihren Kongress abgehalten und einen Beschluss zur Entwaffnung gefasst hatte. In dieser Phase haben wir insbesondere mit Blick auf die Stärkung des Vertrauens der Bevölkerung in den Prozess sowie zur Beendigung ungerechter Praktiken, die das gesellschaftliche Gewissen schwer belasten, gewisse Forderungen an die Regierung gestellt.


Welche Forderungen waren das konkret?

Es handelte sich um Fragen wie die Situation kranker Gefangener und diverse Ungleichheiten im Strafvollzug, die auf strukturelle Probleme hinweisen. Wir haben diese Punkte angesprochen, um das Vertrauen der Bevölkerung in den Prozess zu stärken und um eine historisch gewachsene Ungerechtigkeit zu korrigieren. Es handelte sich dabei nicht um taktische Forderungen im Sinne eines politischen „Gebens und Nehmens“, sondern um grundlegende Anliegen. Das möchte ich ausdrücklich betonen.

Wie interpretieren Sie die Nichterfüllung dieser Erwartungen?

Es geht auch darum, die Unterstützung der Bevölkerung für den Prozess zu erhöhen. Insbesondere die kurdische Bevölkerung vertraut Herrn Öcalan zutiefst, jedoch herrscht gegenüber der Regierung erhebliches Misstrauen, das sich aus ihrer Politik der letzten zehn Jahre speist. In genau dieser Konstellation wurden unsere Anliegen platziert, was den Weg für einen ernstzunehmenden Dialog eröffnete. Während dieses Zeitraums konnten wir mit Vertreter:innen des Justizministeriums, der AKP, aber auch mit anderen Oppositionsparteien in der Nationalversammlung über die Inhalte diskutieren – was an sich bereits einen Fortschritt darstellt.

Mit Blick auf das 10. Justizpaket hatten wir zunächst gefordert, dass keine Themen außerhalb des Strafvollzugs eingebracht werden. Dies wurde akzeptiert. Unser Hauptanliegen innerhalb der Strafvollstreckung war die Beseitigung von Ungleichheiten. Beispielsweise beträgt der Anteil der zu verbüßenden Haft für Verurteilungen nach dem Antiterrorgesetz 75 Prozent (3/4) der Strafe. Wir forderten, diese Frist an jene anderer Delikte anzugleichen. Diese Forderung wurde erfüllt.

Bedeutet das nicht auch eine implizite Kritik an struktureller Ungleichheit im Justizsystem?

Selbstverständlich. Die Türkei leidet unter gravierenden strukturellen Problemen. Insbesondere deshalb, weil das Antiterrorgesetz nicht zwischen gewalttätigen und gewaltfreien Handlungen unterscheidet. So wird dasselbe Gesetz sowohl auf Journalist:innen und Anwält:innen als auch auf bewaffnete Akteur:innen angewendet. Das führt dazu, dass wir überhaupt von „politischen Gefangenen“ sprechen müssen – weil sie es de facto sind. Trotz unserer Forderungen wurde in dieser Hinsicht keine grundlegende Korrektur vorgenommen. Ein Beispiel: Während bei Diebstahl eine vorzeitige Entlassung nach der Hälfte der Strafe möglich ist, muss eine Person, die wegen regierungskritischer Äußerungen verurteilt wurde, drei Viertel ihrer Strafe verbüßen. Dieser Missstand wurde nicht beseitigt, sondern vertagt.

Bereiten die „Aufsichts- und Verwaltungsausschüsse“ (in den Vollzugsanstalten, die über Entlassungen von Gefangenen entscheiden) nicht ebenfalls Probleme?

Absolut. Selbst wenn jemand drei Viertel seiner Strafe verbüßt hat, kann eine solche Kommission entscheiden, dass die Person noch nicht „reif“ für eine Entlassung sei und die Entscheidung um mehrere Monate verschieben. Das ist eine verfassungsrechtlich fragwürdige Praxis, da hier Exekutivorgane richterliche Aufgaben übernehmen. Hinzu kommt, dass politischen Gefangenen hier regelmäßig die Frage gestellt wird: „Bereuen Sie Ihre Tat?“ Diese Frage wurde jedoch bereits im Gerichtsverfahren gestellt – und gerade weil sie ihre Überzeugungen nicht bereut haben, wurden sie verurteilt. Dass Menschen nach 30 Jahren Haft noch immer hinter Gittern sind, ist nicht hinnehmbar. Auch diese Problematik wurde nicht gelöst, sondern auf später verschoben.

Und wie steht es um die Freilassung kranker Gefangener?

Wir forderten die Reform der systematisch restriktiven Praxis des Instituts für Rechtsmedizin (ATK). Unser Vorschlag lautete, dass künftig auch Gutachten von Universitätskliniken und staatlichen Krankenhäusern als Entscheidungsgrundlage für die Staatsanwaltschaft herangezogen werden. Diese Forderung wurde nicht angenommen. Immerhin wurde ein neuer Paragraph eingeführt (§110), wonach eine besonders schwer erkrankte oder behinderte Person, die keine Gefahr für die Gesellschaft darstellt, ihre Reststrafe zu Hause verbüßen kann – jedoch gilt das nicht für lebenslang Inhaftierte mit verschärften Haftbedingungen.

Bedeutet das eine Abkehr vom ATK?

In der Praxis könnte es dazu führen, dass auf eine persönliche Untersuchung bei der Rechtsmedizin verzichtet wird und stattdessen ärztliche Unterlagen aus anderen Krankenhäusern ausreichen. Dies war auch schon zuvor theoretisch möglich, wurde aber kaum angewendet. Wir hoffen auf eine Änderung in der Anwendung. Allerdings bleibt das ATK (untersteht dem Justizministerium) weiterhin eine Problemstelle – vor allem aufgrund politisch motivierter Personalbesetzungen.

Der Ausschluss von Inhaftierten mit verschärfter lebenslanger Haftstrafe wird vielfach kritisiert. Wie bewerten Sie das?

Es ist offensichtlich, dass die Regierung nicht bereit ist, eine grundlegende Veränderung im Fall von Herrn Öcalan vorzunehmen. Wir hatten die Diskussion um das „Recht auf Hoffnung“ bewusst auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. In einem Land, das die Todesstrafe abgeschafft hat, hat eine Strafe wie „lebenslang ohne Aussicht auf Entlassung“ keinen Platz. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bestätigt dies. Die gesamte Strafvollstreckung wird durch diese Extremform blockiert. Wenn wir ernsthaft über Reform sprechen, müssen wir bei dieser Form der Strafe ansetzen – nicht nur im Fall Öcalan, sondern auch wegen der Tausenden weiteren Betroffenen.

Wurde mit dem Justizpaket nun ein realer Schritt unternommen – oder handelt es sich eher um Symbolpolitik?

Ich denke, das 10. Paket war ohnehin in Planung. Die Regierung hatte schon früher Maßnahmen etwa zur Pandemiezeit angekündigt, aber politische Gefangene systematisch ausgeschlossen – was die Gerechtigkeitslücke weiter vertiefte. Wenn wir ernsthaft über rechtliche Fundamente des Friedensprozesses sprechen, brauchen wir klare gesetzliche Strukturen. Etwa eine durch den Gesetzgeber eingerichtete Kommission im Parlament. Das existierende Rahmenrecht (Gesetz Nr. 6551) von 2014 ist nach wie vor gültig, wurde aber nach dem Abbruch Dialogs 2015 (zwischen der türkischen Regierung und Öcalan) nicht weiterverfolgt. Seine Umsetzung liegt heute beim Präsidialamt. Wenn der Prozess voranschreitet, werden wir auf ein solches Gesetz und entsprechende Institutionen zurückkommen müssen.

MHP-Vize Feti Yıldız sprach davon, dass der politische Teil des Prozesses im Herbst zur Sprache kommen soll. Ist das ernst zu nehmen oder eine Hinhaltetaktik?

Ich halte es für klüger, solche Aussagen nicht vorschnell zu bewerten. Der Prozess muss durch wechselseitige Schritte vorankommen. Wir werden weiterhin betonen, dass rechtliche und politische Maßnahmen nötig sind, und setzen den Dialog fort. Parallel dazu sollten Schritte eingeleitet werden, um Herrn Öcalans Arbeitsbedingungen zu verbessern, damit er den Prozess aktiv gestalten kann. In seinen Botschaften an das Parlament im Dezember 2024 hatte er die Einrichtung einer Parlamentskommission ausdrücklich gefordert. Dass Devlet Bahçeli sich nun für eine solche Kommission einsetzt und der Parlamentspräsident parteiübergreifende Gespräche aufnimmt, ist von Bedeutung.

Gibt es derzeit einen konkreten Fahrplan für die nächsten Schritte?

Mir ist kein konkreter Zeitplan bekannt, aber vieles wird sich an der Dynamik des Entwaffnungsprozesses orientieren. Wenn dieser vollzogen ist, werden wir über weitreichendere Maßnahmen sprechen müssen.

Die Gesellschaft äußert Sorge, dass nur einseitige Schritte erfolgen. Wie begegnet man dieser Skepsis?

Das Vertrauen in uns selbst und in Herrn Öcalan muss bestehen bleiben. Gleichzeitig sollten die im „Aufruf für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ formulierten Aufgaben erfüllt werden – etwa durch verstärkte politische Organisation und neue Formen der gesellschaftlichen Mobilisierung. Herr Öcalan hat diesen Prozess aus eigener Initiative heraus angestoßen und trägt ihn weiterhin. Wenn wir diesen Geist bewahren, werden wir die nächsten Schritte meistern.

Zum Schluss: Im aktuellen Justizpaket wurde die umstrittenen Terrorparagrafen §220/6 sowie §314/3 des Strafgesetzbuchs nicht geändert – obwohl sie seit Jahren zehntausende Menschen kriminalisieren. Diese Rechtsnormen müssen abgeschafft werden. Zwar wurde im neuen Gesetz nicht alles erreicht, was nötig wäre, doch kleine Fortschritte wie im Bereich der Sondervollstreckung sind dennoch bemerkenswert.

Wir befinden uns derzeit in einer Phase des negativen Friedens. Sobald diese Phase überwunden ist, können wir über den positiven Frieden und in dessen Rahmen über umfassende demokratische Reformen sprechen. Bis dahin ist es unsere Pflicht, diesen Übergang rechtlich abzusichern. Nur so kann die Entwaffnung ohne Rückschläge und mit gesellschaftlicher Integration gelingen.