Für Dîcle – Brief an eine Weggefährtin

In bewegenden Worten erinnert ein Freund an die Internationalistin Kelly Freygang, die bei einem türkischen Drohnenangriff in Südkurdistan ums Leben kam. Sein Brief ist nicht nur persönliche Trauer, sondern auch Zeugnis eines geteilten politischen Weges.

Dieser Brief ist keiner, den man schreiben möchte. Und doch: Wenn ein Mensch wie Tîjda Zagros fällt, bleibt das Schweigen unerträglich. Dîcle oder Tîjda – geboren als Kelly Freygang – war mehr als eine Weggefährtin. Sie war Kämpferin, Suchende, Freundin, Stimme einer anderen Zukunft. Ihr Weg führte sie vom Bosporus über die kurdische Jugendbewegung in Deutschland bis in die Berge Kurdistans – dorthin, wo sie lebte, lachte, lernte, kämpfte und letztlich auch fiel.

Der folgende Text ist eine Erinnerung. Ein Versuch, festzuhalten, was Worte kaum greifen können: das Leuchten eines Lebens, das weit über das eigene hinausreichte. Eine Hommage an eine Gefährtin, deren Geschichte in den Herzen vieler weiterlebt – und deren Kampf nicht vergeblich war…

Wo soll ich anfangen, über dich zu schreiben, Kelly – Hevala Dîcle, Şehîd Tîjda?

Als ich die Nachricht von deinem Tod las, konnte ich es nicht fassen. Nicht jetzt. Nicht in dieser Phase. Mehr denn je stehen wir vor gewaltigen Aufgaben: der Internationalismus verlangt nach Struktur, nach Tiefe, nach jener unerschütterlichen Kraft, mit der wir den demokratischen Gesellschaftssozialismus in die Welt tragen wollen. Du hättest an vorderster Front stehen sollen – du hättest es gemusst. Auch wenn ich weiß, und das wusste ich mit aller Gewissheit: Die Berge hättest du niemals freiwillig verlassen. Wer könnte das schon?

Ich erinnere mich noch gut an unser letztes Treffen dort – dein Lachen, deine Kraft, dein Blick, erfüllt von dieser stillen Entschlossenheit. Es lag eine Aura um dich, als hättest du jenen Ort gefunden, nach dem du immer gesucht hattest. Später bestandest du darauf, zu bleiben. Du wolltest dich weiterentwickeln – als Guerillakämpferin, als Mensch, als Widerständige. Immer einen Schritt weiter gehen, immer tiefer hinein in diesen Weg, der deiner geworden war. Ich hatte danach keine Gelegenheit mehr, dich zu sehen, mit dir zu sprechen, doch hörte ich hier und da von dir – von Orten, an denen du gewesen sein sollst, vom Eindruck, den du hinterlassen hast. Alle sprachen mit Wärme, mit Stolz von dir. Du wurdest geliebt, du wurdest tief ins Herz geschlossen.

Es war im Sommer 2014, als wir am Bosporus saßen. Die Wellen brachen sich an der Kaimauer, und du warst für ein Auslandssemester in Istanbul. Doch kaum eine deiner Stunden galt den Vorlesungen. Stattdessen folgtest du deinem inneren Ruf – deinem Drang nach Freiheit. Wie hättest du auch zuhören sollen, in stickigen Hörsälen, während in Kobanê ein Widerstand tobte, der die Welt erschütterte? Der auch dich erschütterte. Der die Welt veränderte – und dich mit ihr.

Kobanê war weit weg, ja – doch gleichzeitig war es durch die Proteste, Demos, Veranstaltungen und Kundgebungen in Istanbul so nah. Wie oft standen wir stundenlang im dichten Verkehr, um an einer dieser Versammlungen teilzunehmen, Genoss:innen zu treffen, die Freiheitsbewegung besser zu verstehen.

Von all den Erinnerungen dieser Zeit – und es sind viele – hat sich der 8. März tief in mein Herz eingebrannt. Ich erinnere mich an das Feuer in deinen Augen, als du von der Demo zurückkamst. Voller Begeisterung sprachst du von der Kraft der Frauen, deren Teil du selbst bald werden solltest – ein leuchtendes Beispiel unter ihnen.

Wenig später fuhrst du nach Amara, in das Haus des Vorsitzenden, dessen Schriften du mit Hingabe gelesen und diskutiert hattest. Nach deiner Rückkehr nach Deutschland stürztest du dich voller Elan in die Jugendarbeit. Ich erinnere mich, wie du von der ersten Sitzung erzähltest – wie herzlich dich die Genoss:innen aufnahmen. Es war das gelebte Miteinander, das dich berührte – nicht bloß Theorie, sondern gesellschaftliche Wirklichkeit.

Bald schon wurdest du zu einer tragenden Säule der Arbeit in Hamburg. Auf Demos, Versammlungen, Veranstaltungen – du warst da. Mit Energie, mit Klarheit, mit einem offenen Ohr. Doch das reichte dir nicht. Dein Suchen war tiefer. Deine Sehnsucht – grundsätzlicher.

Wie können wir ein revolutionäres, sozialistisches Leben führen? Das war deine Frage. Für dich war Sozialismus keine ferne Utopie – er musste gelebt werden. Jetzt. Hier.

So schlossest du dich 2017 der Freiheitsbewegung an. Du wähltest zunächst noch den Namen Dîcle – der Tigris. Und wie dieser Fluss warst du: wild, kraftvoll, unbeirrbar. Du wolltest dich reinigen – vom Staub des Systems, von seinen Prägungen. Mit Wasser. Mit Feuer.

Du warst schon vorher radikal, voller Mut. Aber in den Reihen der Revolution hast du dich noch einmal gewandelt. Der Kampf gegen die eigenen Widersprüche, das Streben nach einer sozialistischen Persönlichkeit, nach militanten Idealen – du lebtest ihn.

Und doch warst du nie hart im Sinne des Kalten. Dein Lachen war herzhaft, tief, ansteckend. Es war eine Quelle der Moral für alle, die dich umgaben.