Zwischen Giftgas und grünem Aufbruch

Die lokale NGO NWE, die Organisation Wadi und ein deutscher Ingenieur haben in Helebce vor drei Jahren das Recyclingzentrum „Shred Up“ aufgebaut. Es zeigt, wie in Kurdistan die Trümmer deutscher Verantwortung aufgeräumt werden.

Recyclingzentrum in Helebce

Wer heute durch die Straßen von Helebce (auch Halabja, dt. Halabdscha) geht, sieht Plastik. Plastikflaschen, -tüten, -verpackungen. Sie liegen in Straßengräben, in Flussläufen, auf Schulhöfen. Was für viele in Europa ein vermeintlich typisches Problem des globalen Südens darstellt – die Vermüllung öffentlicher Räume durch Einwegkunststoffe – bekommt hier, im Schatten eines historischen Verbrechens, eine tiefere Bedeutung.

Denn Helebce ist nicht irgendeine Stadt. Sie steht für einen der grausamsten Giftgasangriffe des 20. Jahrhunderts: Am 16. März 1988 warf das irakische Regime unter Saddam Hussein mit deutscher Technologie tödliches Gas auf die kurdische Bevölkerung ab. Über 5.000 Menschen starben sofort, Tausende weitere erlitten schwerste Verletzungen. Es war ein Massaker – ausgeführt mit Hilfe von Firmen aus Deutschland. Doch eine Verantwortungsübernahme durch die Bundesregierung, oder überhaupt die Anerkennung dieser Tat als Völkermord, bleiben aus.

Umweltzerstörung als Fortsetzung des Krieges

Der Angriff von 1988 war nicht ausschließlich ein Angriff auf Menschen – sondern auch auf ihre Umwelt: Auf Wasser, Böden, Pflanzen. Noch heute sind viele Böden rund um Helebce verseucht, Obstbäume tragen keine Früchte mehr. Die Infrastruktur blieb über Jahrzehnte unterentwickelt. In dieser Gemengelage aus Gewaltfolgen, Flucht, Armut und staatlichem Desinteresse ist ein bemerkenswertes Projekt entstanden – initiiert nicht etwa von außenstehenden Entwicklungshilfemissionen, sondern von Betroffenen selbst, gemeinsam mit solidarischen Unterstützer:innen.

Das Recyclingzentrum „Shred Up“ wurde 2022 am 34. Jahrestag des Giftgasangriffs in Helebce eröffnet. Es ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen der lokalen NGO NWE, der Organisation Wadi und einem deutschen Ingenieur aus Landshut. Ziel ist es, Plastikmüll vor Ort zu recyceln – aber auch, einen Ort zu schaffen, an dem sich Geschichte, Widerstand und Zukunftsperspektive verbinden.

„Aus der Hülle einer chemischen Waffe einen Baum wachsen lassen“ – so beschreibt ein Aktivist von Wadi das Ziel der Kampagne „Green City Helebce“, in deren Rahmen das Projekt entstand.

Frauen als Trägerinnen des Wandels

Die Führungsrollen werden von Frauen übernommen. Die Elektroingenieurin Shinyar Yadgar Mawlud ist eine von vielen Frauen, die nicht nur Müll trennen, sondern Maschinen bedienen, Workshops organisieren, Schulpartnerschaften koordinieren. Mädchen und junge Frauen lernen hier, wie Umweltschutz, Technik und Selbstbestimmung zusammenspielen.

In einer Region, in der Patriarchat und Armut oft Hand in Hand gehen, ist das mehr als symbolisch. Es ist ein konkreter Schritt hin zu Gleichstellung – durch Technik, Bildung, Lohnarbeit. Die Beteiligung der Frauen ist kein Beiwerk, sondern integraler Bestandteil der Vision.

Von Helebce bis ins Khabarto Camp: Recycling als Überlebensstrategie

Was in Helebce begann, findet nun eine Fortsetzung im ezidischen Khabarto Camp bei Dohuk, das rund 20.000 Binnenvertriebene beherbergt. Auch dort fehlte bis vor Kurzem ein geregeltes Abfallmanagement – acht Jahre lang. Jetzt entsteht unter Leitung von ezidischen Mädchen und Frauen, viele von ihnen Überlebende der Verschleppung durch den selbsternannten Islamischen Staat, ein Recyclingzentrum, das Müll nicht nur entfernt, sondern in Wissen, Einkommen und Hoffnung umwandelt.

Plastik wird gesammelt, sortiert, zerkleinert. Aus dem recycelten Material entstehen neue Produkte die im Camp oder dem Viertel benötigt werden, beziehungsweise auf dem Markt verkauft werden, um Geld einzunehmen. In Schulen im Camp finden Workshops statt: Wie wirkt sich Müll auf unsere Gesundheit aus? Warum verschmutzt Plastik das Wasser? Welche Alternativen gibt es? Der Prozess ist partizipativ, niedrigschwellig und selbstorganisiert.

Diese Projekte sind dabei nicht nur Umweltschutz im engeren Sinne – sie sind auch Demokratieprojekte in einer prekären Weltregion. Sie zeigen, dass ökologischer Wandel nicht nur von oben durch große Summen oder Regierungsinitiativen angestoßen werden muss – sondern auch von unten, aus der Gemeinschaft heraus, auf Basis geteilten Wissens und gemeinsamer Erfahrung.

Deutschlands doppelte Verantwortung

Und hier rückt Deutschland wieder in den Fokus. Denn der Wiederaufbau, die Umweltsanierung und die soziale Erneuerung in Helebce sind auch eine deutsche Pflicht. Zahlreiche Gutachten und Recherchen haben längst nachgewiesen, dass deutsche Unternehmen – unter dem Deckmantel des zivilen Exports – Komponenten für die Giftgasproduktion geliefert haben. Namen wie Karl Kolb oder Preussag tauchen regelmäßig in Zusammenhang mit irakischen Rüstungsprogrammen auf. Die Bundesregierung weiß das – und schweigt.

Statt Wiedergutmachung gibt es Einzelförderungen durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung oder gelegentliche Unterstützung durch zivilgesellschaftliche Stiftungen. Das ist wichtig – aber es ersetzt keine politische Anerkennung, keine juristische Konsequenz und keine umfassende Reparationsleistung. Dass Helebce bis heute keine durchgängige Trinkwasserversorgung hat, ist keine geographische Laune, sondern eine Folge von jahrzehntelangem Wegschauen – auch aus Berlin.

Globale Gerechtigkeit beginnt im Konkreten

Die Projekte in Helebce und im Khabarto Camp zeigen, wie Umweltpolitik im besten Sinne verstanden werden kann: verknüpft mit Menschenrechten, mit feministischer Perspektive und mit historischer Verantwortung. Und sie zeigen: Klimagerechtigkeit ist nicht abstrakt. Sie beginnt dort, wo Menschen, die unter Gewalt, Flucht und Vernachlässigung gelitten haben, Verantwortung für ihre Umwelt selbst in die Hand nehmen. Darüber hinaus müssen Länder wie Deutschland endlich anfangen, zuzuhören, zu zahlen und zu handeln.

Für das Jahr 2025 plant Wadi weitere Umweltinitiativen, darunter Modellhäuser zur Energieeinsparung, nachhaltige Landwirtschaft in Dörfern und Vortragsreihen in Deutschland, die das Thema plastische Umwelt und politische Verantwortung verbinden. Ziel ist es, innerhalb von fünf Jahren 80 Prozent des Plastikmülls in Helebce zu recyceln – und gleichzeitig Bewusstsein in Deutschland zu schaffen. In den letzten drei Jahren haben sie bereits über ein Drittel des Plastikmülls recycelt oder durch nachhaltigere Verpackungen austauschen können.

Doch solange Deutschland nur Gedenkkränze schickt, aber keine Wiedergutmachung leistet, bleibt jedes Umweltprojekt auch eine stille Anklage. Und jedes recycelte Stück Plastik ein Symbol für eine Zukunft, die nicht vergessen will – und auch nicht schweigen wird.