Frieden in der Türkei kann es nur mit Öcalan geben

Nach 43 Monaten Isolation konnte der PKK-Begründer Abdullah Öcalan zum ersten Mal wieder DEM-Abgeordnete treffen. Er fordert nach wie vor einen Friedensprozess – aber seitens der Türkei gibt es daran wenig Interesse.

Analyse von Devriş Çimen

Nach dem Abendessen bei der kurdischen Familie, bei der wir zu Gast sind, setzen wir uns vor den Fernseher. Der Gastgeber zappt durch die vielen türkischsprachigen Kanäle. Die meisten zeigen die gleichen Bilder: Menschen, die in hitzige Diskussionen verwickelt sind. Die sogenannten »Experten« sind alle von einem Themenkomplex besessen: Abdullah Öcalan, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die Kurd:innen und die Demokratische Autonome Verwaltung von Nord- und Ostsyrien. Die einst vielstimmige türkische Medienlandschaft steht seit Jahren fast vollständig unter Kontrolle der Regierung Recep Tayyip Erdoğans oder regierungsnaher Geschäftsleute. Das Land belegt in der Rangliste der Pressefreiheit 2023 aktuell Platz 165 von 180. Daher sind Diskussionen über diese Themen nach jahrelanger Zensur neu und überraschend. Denn: Wenn die »höchste Instanz« es wünscht, können die türkischen Medien aus einem Elefanten eine Ameise machen – und umgekehrt.

Ende Oktober 2024 schlug Erdoğans faschistischer Regierungspartner Devlet Bahçeli, Vorsitzender der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), überraschenderweise vor, den zu lebenslanger Haft verurteilten Öcalan auf Bewährung freizulassen, wenn er der »Gewalt abschwört und die PKK auflöst«. Erdoğan folgte mit der Aussage, die Türkei müsse Probleme lösen, anstatt sie zu ignorieren. Am 23. Oktober konnte Ömer Öcalan, Abdullah Öcalans Neffe (gleichzeitig Abgeordneter der Partei der Völker für Gleichberechtigung und Demokratie, kurz DEM-Partei), diesen auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali im Rahmen eines »Familienbesuchs« sehen.

Dieser Besuch endete 43 Monate der Totalisolation, in denen kein Lebenszeichen Öcalans nach draußen gelang. Öcalans kurze aber umso klare Botschaft lautete: »Die Isolation geht weiter. Wenn die Bedingungen entstehen, habe ich die theoretische und praktische Kraft, diesen Prozess von der Grundlage des Konflikts und der Gewalt auf eine rechtliche und politische Grundlage zu lenken.« Die gesamte Freiheitsbewegung Kurdistans erklärt seither öffentlich, ihn in einem solchen Fall zu unterstützen.

Am 28. Dezember konnte schließlich ein Besuch von Sirri Süreyya Önder und Pervin Buldan, beide Abgeordnete der DEM im türkischen Parlament, auf der Gefängnisinsel Imrali stattfinden. Über die Abgeordneten übermittelte Öcalan seine aktuelle Botschaft. Darin heißt es: »Für den Erfolg des Prozesses ist es unerlässlich, dass alle politischen Kreise in der Türkei die Initiative ergreifen, konstruktiv handeln und positive Beiträge leisten, ohne sich in ein engstirniges und konjunkturabhängiges Kalkül zu verstricken. Einer der wichtigsten Orte dafür ist das Parlament der Türkei.«

Eine dreiköpfige Delegation von DEM-Politiker:innen, die mit den Parteien im türkischen Parlament Vorgespräche über einen möglichen Dialogprozess zur Lösung der kurdischen Frage führte, zeigte sich zuversichtlich über die Ergebnisse dieser Gespräche. Bei dem Treffen wurde ein positiver und optimistischer Ansatz verfolgt – und davor gewarnt, dass die Regierung einen solchen Prozess nicht aus Eigeninteresse angehen sollte.

Die beiden Abgeordneten Önder und Buldan konnten Öcalan am 22. Januar ein zweites Mal besuchen. Am nächsten Tag veröffentlichten sie eine kurze Botschaft, in der sie erklärten, dass Öcalans Arbeit an dem Prozess fortgesetzt wird und dass sie auf die wertvollen Beiträge aller gesellschaftlichen Gruppen angewiesen sind. Dieser Prozess soll dazu beitragen, »dass wir alle gemeinsam und frei leben können«.

Öcalan muss freigelassen werden

Öcalan spielt erneut die entscheidende Rolle für eine politische Lösung, Frieden und eine Demokratisierung der Türkei und Kurdistans. Eine solche Rolle aus permanenter Isolation heraus zu übernehmen, ist schwierig. Daher hat die Forderung nach seiner Freilassung nun Priorität.

Seit 26 Jahren befindet er sich in Isolationshaft. Am 15. Februar 1999 wurde er im Rahmen eines internationalen Komplotts von NATO-Mitgliedern und Ländern wie den USA, Israel, Griechenland, Kenia, der Türkei und deren Geheimdiensten in Kenia verschleppt. Millionen von Kurdinnen und Kurden,die aufgrund des Krieges in Kurdistan in viele Teile der Welt fliehen mussten, protestierten damals wütend. Angesichts der massiven Proteste erklärte Madeleine Albright, damalige US-Außenministerin und Mitverantwortliche für die Verschleppung Öcalans, dass sie mit Reaktionen gerechnet habe, aber nicht mit solchen.

Die Kräfte hinter dem Komplott waren davon überzeugt, eine einfache Antwort auf komplizierte Fragen zu haben. Doch dafür sind der Mittlere Osten, Kurdistan und aktuell auch Syrien nicht der Ort. All diese Konflikte sind miteinander verwoben. Das Gerede von Menschenrechten, internationalem Recht und Demokratie verschleiert die Kämpfe um die Ausbeutung der Ressourcen der Region.

Vor seiner Entführung war Öcalan nach Rom gereist, wo er seine Bereitschaft zu einer demokratischen und friedlichen Lösung der kurdischen Frage kundtat. Er wollte, dass Europa zu dieser Lösung beiträgt. Doch Europa mauerte ab. Zuvor war Öcalan durch Drohungen der NATO und der Türkei gezwungen worden, Syrien zu verlassen. Doch sein Kampf um eine friedliche Lösung des Konflikts reicht noch weiter zurück.

Schon in den 1990er Jahren hatte Öcalan immer wieder klargemacht: »Ich suche einen Ansprechpartner für eine friedliche Lösung des Konflikts«. Diese Suche dauert bis heute an. Der türkische Staat sabotierte jede politische Lösung durch ständige Eskalationen. Es gab kein Zugeständnis, zu dem die Türkei nicht bereit gewesen wäre, um sich internationale Unterstützung für die Fortführung des Krieges zu sichern.

Seit über fünfundzwanzig Jahren hat die Türkei kein Interesse an einem ernsthaften Dialog mit Öcalan gezeigt. Alle bisherigen Versuche scheiterten am Taktieren des türkischen Staates. Das gilt insbesondere für die Entscheidung Erdoğans, den sogenannten »Friedensprozess« 2015 über den Haufen zu werfen und Gewalt und Krieg im In- und Ausland, vom Nordirak bis nach Nordsyrien zu entfachen.

Die Türkei ist mittlerweile tiefer denn je in ihrer Paranoia gefangen und damit immer weiter in eine seit Jahren andauernde politische, soziale und wirtschaftliche Krise abgeglitten. Der gesellschaftliche Verfall zeigt sich auf allen Ebenen. Der gesamte Staatsapparat und seine Organe sind antidemokratisch und antikurdisch eingestellt und Erdoğan greift zu jedem Mittel, um seine Macht zu erhalten.

Ausgrenzung, Diskriminierung, Ausbeutung, Vernachlässigung, Assimilierung und Massaker waren die Gründe der Kurdinnen und Kurden für ihren politischen und bewaffneten Kampf, der seit 1984 von der PKK geführt wird. Sie sind bis heute zu Recht verunsichert, weil es in der Türkei immer noch keinen rechtlichen Rahmen für Kurdinnen und Kurden gibt. Der derzeitige Rechtsrahmen entmündigt sie grundlegend. Eine umfassende Demokratisierung würde jedoch sowohl der türkischen als auch der kurdischen Gesellschaft dienen und zu einer friedlichen Koexistenz beitragen.

Wenn es nach der Regierung Erdoğan – und seiner Vorgänger – ginge, sollten Kurdinnen und Kurden auf die Durchsetzung ihrer Grundrechte und deren Verankerung in der Verfassung verzichten und ihren Kampf aufgeben – sonst würde die Gewalt weitergehen. Die Machthaber können diese Politik auf Kosten ihrer miserablen Wirtschaft und ihres Lebens ohne sozialen Widerstand fortsetzen, weil sie die Kurden zum Sündenbock für jedes Übel erklären, auch über ihre Staatsgrenzen hinaus.

Diese Spirale der Paranoia macht die Innen- und Außenpolitik der Türkei unberechenbar. Wenn man jedoch den Zerfall des Assad-Regimes betrachtet, das fest im Sattel zu sitzen schien, so ahnt man, dass auch das unterdrückerische AKP/MHP-Regime jederzeit ein ähnliches Schicksal erleiden könnte.

Ankara in Syrien

Im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 kam es in Syrien zu einem breiten Aufstand gegen Baschar al-Assads Regime. Zu Beginn des Konfliktes bekämpfte die Regierungsarmee Assads (unterstützt von Russland und dem Iran) die Freie Syrische Armee (FSA). Die FSA wurde von Ländern wie der Türkei, Saudi-Arabien, Katar und den USA mit Waffen und Ausrüstung beliefert. Die Türkei wurde zur Rückzugs- und Kommandozentrale der FSA und anderer islamistischer Gruppen. Der Aufstand wurde damit zu einem Stellvertreterkrieg, der wenig mit den Interessen der Menschen in Syrien und viel mit dem politischen und wirtschaftlichen Kalkül der Konfliktparteien zu tun hatte.

Nur in Nordsyrien entwickelte sich in den kurdischen Regionen (Cizîrê, Kobanê und Efrîn) eine »demokratische Autonomie«, die als Rojava bekannt wurde und heute offiziell Demokratische Selbstverwaltung der Region Nord- und Ostsyrien heißt (engl. Abkürzung: DAANES). Dort wurde eine multiethnische und multireligiöse lokale Selbstverwaltung eingerichtet, deren theoretischer Rahmen auf dem basisdemokratischen Paradigma Öcalans beruht.

Die Türkei wählte im Sinne ihrer antikurdischen Agenda Rojava als Hauptangriffsziel. Im Sommer 2014, als der Islamische Staat (IS) im Nordirak und in Nordsyrien seine völkermörderischen Angriffe auf die kurdische und ezidische Bevölkerung intensivierte, wurde durch die Weltöffentlichkeit massiv Druck aufgebaut und internationale Mächte zum Handeln gezwungen. Die USA riefen gemeinsam mit ihren Verbündeten, vor allem mit anderen NATO-Mitgliedern und einigen arabischen Staaten, die Anti-IS-Koalition ins Leben.

Zu dieser Zeit griff der IS Kobanê bereits an und Erdoğan sehnte den Fall der Stadt herbei. Aber die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ leisteten mit Unterstützung der PKK-Guerilla einen historischen Widerstand, der als »Schlacht um Kobanê« in die Geschichte einging. Der Widerstand, die damaligen Proteste und der Druck der Weltöffentlichkeit bewegten die Anti-IS-Koalition dazu, international gegen den IS vorzugehen. Daraufhin starteten die USA erstmals Luftangriffe. Ende Januar 2015 wurde Kobanê befreit. Die Bekämpfung des IS wurde durch die YPG/YPJ mit Unterstützung der Anti-IS-Allianz fortgesetzt. Im März 2019 verlor der IS sein letztes Herrschaftsgebiet. Militärisch galt er damit als geschlagen.

Die Türkei setzte sich frühzeitig für den Sturz von Assad ein. Sie stellte sich politisch, logistisch und strategisch hinter die verschiedenen islamistischen Gruppen von der FSA (heute SNA) und dem IS bis hin zur HTS, die jüngst in Syrien die Macht übernahm. In Kooperation mit diesen Gruppen besetzte die Türkei 2016 die ersten Teile Nordsyriens, unter anderem Dscharablus. Teilweise wurden diese Gebiete durch den IS direkt an die Türkei übergeben.

2018 folgte die Invasion in Efrîn, 2019 in Girê Spî (Tall Abyad) und Serêkaniyê (Ras al-Ain). Ziel war es, die sich ständig weiterentwickelnde Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien zu schwächen und nach Möglichkeit zu zerschlagen. Dafür beteiligte sich die Türkei als IS-Unterstützer paradoxerweise an der Anti-IS-Koalition, kooperierte mit Russland und griff gemeinsam mit den meisten islamistischen und dschihadistischen Gruppen die DAANES an.

So unterstützte die Türkei beispielsweise den IS bei der Belagerung von Kobanê durch Waffenlieferungen oder die Gewährleistung medizinischer Behandlung von verwundeten IS-Kämpfern. Aus der FSA ging die SNA als Marionette des islamistischen Erdoğan-Regimes hervor. Ihre vorgebliche Mission, der Sturz des Assad-Regimes, wäre mit dem Ende des Regimes schon vor Monaten erfüllt gewesen, doch kämpfen noch immer Tausende von pro-türkischen SNA-Söldnern im Auftrag ihres türkischen Auftraggebers gegen die selbstverwalteten Regionen in Nord- und Ostsyrien. Hinzu kommen immer neue Drohungen der Türkei mit einer neuen Bodeninvasion in Nord- und Ostsyrien.

Sie reden vom Frieden, aber in Wirklichkeit herrscht Krieg

Das macht einen offensichtlichen Widerspruch deutlich. Einerseits wird von einer möglichen »Lösung« der kurdischen Frage gesprochen, andererseits eskaliert das Regime in Ankara die Situation durch Krieg, Besatzung und systematische Repression. Seit den letzten Kommunalwahlen im Jahr 2024 wurden zehn demokratisch gewählte kurdische Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, unter anderem in Mêrdîn, Colemêrg (tr.: Hakkari), Êlih (Batman) und Dersim, abgesetzt und durch staatliche Zwangsverwalter ersetzt.

Seit 2016 wurden insgesamt 157 Stadtverwaltungen in den kurdischen Provinzen von Zwangsverwaltern beschlagnahmt. Die Polizei schlug Proteste dagegen brutal nieder und nahm Hunderte von Menschen fest, von denen die meisten langjährige Haftstrafen erhielten. Mehr als zehntausend politische Gefangene, darunter ehemalige Parlamentsabgeordnete, Bürgermeister:innen und Journalist:innen, sitzen aktuell in türkischen Gefängnissen.

Politiker:innen, Akademiker:innen und Expert:innen, die die Grundrechte des kurdischen Volkes nicht anerkennen, dominieren die »demokratischen« Debatten in den türkischen Medien. Der Herrschaftsdiskurs ist von der Paranoia und dem konstruierten Szenario geprägt, die Gewährung grundlegender Rechte für die Kurdinnen und Kurden werde zu einer Spaltung des Landes führen. Auch im Parlament führen Kriegsbefürworter:innen und Antidemokrat:innen Debatten über die kurdische Frage. All das bleibt aktuell nichts anderes als leeres politisches Geschwätz.

Für Kurdinnen und Kurden sind die Diskussionen der türkischen Obrigkeit zwar ein Nervenkrieg, aber gleichzeitig verfügen sie über ein gereiftes Selbstvertrauen und Vertrauen in ihren Weg zur Freiheit. Wäre die Türkei wirklich bereit, wäre die Lösung ganz einfach: Man müsste offen und direkt mit Öcalan und Vertretenden der Freiheitsbewegung Kurdistans reden anstatt über sie.

Öcalans politische Lösung

Öcalan hat kürzlich seine Bereitschaft zu einem Friedensprozess erklärt. Dieser müsse aber an entsprechende Bedingungen geknüpft werden. Seine Freiheit ist eine zwingende Notwendigkeit und wäre ein historischer Schritt. 10,3 Millionen Menschen forderten Anfang 2015 in einer weltweiten Kampagne seine Freilassung und die aller anderen politischen Gefangenen in der Türkei.

Nach Jahren der Isolation beweist Öcalan einmal mehr, dass er immer noch die Schlüsselfigur für einen gerechten Lösungsprozess ist. Einen umfassenden Friedensplan hatte er bereits im Jahr 2009 mit seiner »Roadmap« vorgelegt. Sie formuliert konkrete Vorschläge und Schritte, die beide Konfliktparteien vollziehen müssen, damit Frieden gelingen kann.

Zentral für die kurdische Seite ist die strukturelle Anerkennung ihrer Gesellschaft. Damit einher gehen beispielsweise das Recht auf muttersprachliche Bildung, eine Dezentralisierung politischer Strukturen und ein Ende der Zwangsverwaltungen kurdischer Landkreise in Nordkurdistan. Die demokratische und friedliche Lösung der Kurdenfrage wird als Teil einer allgemeinen Demokratisierung der Türkei betrachtet. Diese beinhaltet rechtliche und strukturelle Reformen, um die kulturellen und identitätspolitischen Rechte aller Bürgerinnen und Bürger zu schützen.

In den darauffolgenden Jahren entwickelte Öcalan in seinen Gefängnisschriften einen theoretischen Rahmen, der demokratische Lösungen für Syrien, die Türkei, den Iran und den Irak beinhaltet. Sein Projekt des demokratischen Konföderalismus beinhaltet umfassende Perspektiven und Lösungen für eine demokratische, ökologische und auf die Freiheit der Frau ausgerichtete Gesellschaft – nicht nur in Kurdistan und der Türkei, sondern im gesamten konfliktreichen Nahen und Mittleren Osten. Von Öcalan entwickelte Konzepte wie »demokratische Autonomie« und »demokratische Nation«, die nicht auf einen Nationalstaat ausgerichtet sind, wurden von der Freiheitsbewegung Kurdistans in den letzten Jahren wo immer möglich in der Praxis mit Leben gefüllt, wie zum Beispiel in Nord- und Ostsyrien.

Ob sich der neue Dialogversuch zu einem Friedensprozess entwickelt, ist noch unklar. Dies hängt auch mit dem gesellschaftlichen Druck zusammen. Erdoğans Aufruf zur »Kapitulation« der Kurdinnen und Kurden einerseits und die Androhung weiterer Gewalt andererseits zeigen, dass er ein ganz anderes Kalkül verfolgt. Auf einem Parteitag in der Provinz Rize am 5. Januar sagte er: »Gemeinsam haben wir eine einmalige Chance, Geschichte zu schreiben. Ohne Risiko kann man in keinem Bereich des Lebens Erfolg haben, auch nicht in der Politik.« Welche Art von Risiko er meint, ist unklar. Klar ist, dass Frieden und Demokratie kein Risiko sind. Doch wenn es keinen Frieden gibt, wird das Land weiteren Gefahren und Risiken ausgesetzt.

Aktuell steht nun wieder einmal die Ernsthaftigkeit des türkischen Staates zur Disposition: Handelt es sich um einen Versuch, ernsthafte Gespräche aufzunehmen, oder nutzen Erdoğan und Bahçeli den Dialog erneut nur als taktisches Manöver? Fest steht, dass die Türkei eine friedliche, demokratische und würdige Lösung nicht hinauszögern darf. Genau das geschieht aber seit 1993. Der paranoide Wahnzustand verschiedenster türkischer Regime in Bezug auf die kurdische Frage steht in engem Zusammenhang mit der antikurdischen Gründungsdoktrin des türkischen Staates.

Öcalans Botschaft vom 28. Dezember endete mit den Worten: »Es ist Zeit für eine Ära des Friedens, der Demokratie und der Geschwisterlichkeit für die Türkei und die Region.« Am 4. Februar erklärte der Ko-Vorsitzende der DEM-Partei, Tuncer Bakirhan, Öcalan bereite sich darauf vor, in den kommenden Tagen »einen historischen Aufruf für eine tiefgreifende und dauerhafte Lösung der kurdischen Frage und den Aufbau einer demokratischen Türkei« zu starten.

Dies zeigt einmal mehr, dass er der wichtigste politische Repräsentant der Kurdinnen und Kurden ist, nicht nur in der Türkei, sondern auch in Syrien, im Iran und im Irak. Nur Öcalan bietet eine ernsthafte Lösung jenseits von Staat, Macht, Krieg, Kapitalismus, Umweltzerstörung und patriarchalen Strukturen. Nun kommt es darauf an, dass sich auch die anderen für einen Friedensprozess bereit erklären.

Devriş Çimen ist kurdischer Journalist und Politiker. Der Artikel erschien zuerst bei Jacobin.