Kommune, Macht und Wandel: Öcalans Vision im Licht von Öztürks Analyse

Abdullah Öcalans Perspektiventext ruft zur Selbstverwaltung, kritisiert patriarchale Gewalt und denkt Internationalismus neu. Der Sozialist Hakan Öztürk (EHP) beleuchtet, wie tief dieser Wandel reicht – historisch, politisch und persönlich.

Vorsitzender der Partei der Werktätigen

Im Perspektiventext Abdullah Öcalans zum 12. Kongress der PKK treten zentrale Überlegungen zur politischen Selbstorganisation und zur historischen wie gegenwärtigen Bedeutung von Kommunenstrukturen in den Vordergrund. Hakan Öztürk, Vorsitzender der Partei der Werktätigen (EHP), reflektiert in diesem Zusammenhang sowohl die theoretische wie praktische Dimension dieser Perspektive – von der sowjetischen Räteerfahrung bis zu feministischen Frauenversammlungen im heutigen Türkei-Kontext. Die Analyse (Teil 1 hier) spannt den Bogen von der historischen Kritik am Realsozialismus bis hin zu aktuellen Potentialen kommunaler Selbstermächtigung in der Türkei.

Zwischen Staat und Kommune: Die Wiederentdeckung der dualen Macht

Ein zentrales Motiv im Perspektivenpapier Öcalans ist die Gegenüberstellung von „Staat“ und „Kommune“. Für Öztürk steht fest: Hier geht es um mehr als eine historische oder theoretische Unterscheidung – es ist ein politisch-praktischer Vorschlag.

„Wenn Öcalan von der Kommune spricht, meint er nichts anderes als das, was in Russland als Sowjet bekannt wurde: Eine Form organisierter Gegenmacht – getragen von Arbeiter:innen, Bäuer:innen, Frauen, also den ausgegrenzten Klassen.“

Die Kommune werde hier laut Öztürk nicht nur als Alternative zum Staat verstanden, sondern als antagonistische Struktur, die sich gegen sämtliche Hierarchien und Machtmonopole richtet – ein Konzept, das an die leninistische Forderung „Alle Macht den Räten“ anknüpft.

Realsozialismus und die Frage verpasster Emanzipation

Zugleich betont Öztürk, dass Öcalans Perspektiventext sich nicht in nostalgischer Verklärung des Sozialismus erschöpft. Vielmehr beinhalte er eine differenzierte Kritik an den historischen Fehlentwicklungen des Realsozialismus: „Nach der Oktoberrevolution begann eine Phase, in der Frauen wieder ins Haus gedrängt wurden, traditionelle Ehekonzepte dominant wurden. Das ist nicht falsch – das ist richtig beobachtet.“

Besonders hebt Öztürk hervor, dass Öcalans Kritik am patriarchalen Rollback des sowjetischen Sozialismus auch mit einer persönlichen Absage an das traditionelle Familienmodell verbunden sei: „Ich habe selten jemanden gesehen, der Ehe und Familie so scharf kritisiert. Er sagt klar: Ich habe mich davon emanzipiert – und das war gut so.“

Damit plädiert Öcalan, so Öztürk, für eine Rückbesinnung auf die egalitären Prinzipien des Frühsozialismus, und für eine Rehabilitierung des Sowjet-Modells jenseits seiner autoritären Entstellungen.

Kommune als lebendige Struktur: Von Gezi bis in die Gemeinden

Öztürk verweist auf Beispiele realer Selbstorganisierung in der jüngeren Geschichte der Türkei, die dem Kommunenmodell nahekommen – etwa die Foren nach den Gezi-Protesten von 2013 oder lokale Initiativen vor Wahlen: „Nach Gezi gab es Foren, in denen sich Systemkritiker:innen versammelten. Das war eine Art embryonale Kommune. Wenn wir solche Strukturen auf kommunaler Ebene verankern könnten – mit Ressourcen und Legitimität –, wäre das ein enormer Schritt.“

Für Öztürk ist klar: Die von Öcalan geforderte Selbstverwaltung ist keine abstrakte Utopie, sondern eine unmittelbar anschlussfähige Praxis: „Öcalan sagt im Grunde: Bildet eure eigene Selbstverwaltung. Wenn es in Russland ein Sowjet war, dann soll es hier eben ein Meclis (Rat) sein – oder eine Kommune, oder eine kommunale Versammlung. Wichtig ist, dass es ein Ort ist, an dem jene zusammenkommen, die vom bestehenden System ausgeschlossen sind.“

Die Praxis der Räte: EHP und die Frauenräte

Als Beispiel für eine gelungene Umsetzung solcher Strukturen verweist Öztürk auf die Erfahrungen der EHP mit der Organisation von Frauenräten: „In unseren Frauenversammlungen bringen wir unterschiedliche Positionen zusammen. Auch wer nicht vollständig Teil der Struktur ist, kann sich äußern, mitwirken, mitentscheiden.“

Wichtig sei dabei, dass die Räte keine „Nebenorganisationen“ der Partei sind, sondern eigenständige politische Räume mit Entscheidungskompetenz: „Wir sind nicht der Meinung, dass solche Räte der verlängerte Arm der Partei sein sollten. Im Gegenteil: Auch wenn eine Meinung nicht der Parteilinie entspricht, wird sie gehört, und manchmal auch umgesetzt.“

Öztürk betont die Notwendigkeit, Rätestrukturen mit echter Entscheidungsmacht auszustatten – nach dem Prinzip: „Rede, Mandat, Entscheidung und Macht“. Er sagt: „Ein Rat muss ein organisiertes Gremium sein: mit Rede- und Entscheidungsrecht, mit Befugnissen und Autorität. Wer sich äußert, soll damit auch Entscheidungen gestalten können. Sonst bleiben es Pseudo-Strukturen.“

Kommunale Strukturen als reale Möglichkeit

Auch auf kommunaler Ebene sieht Öztürk große Potenziale für die Realisierung solcher Kommunenstrukturen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass viele oppositionelle Kräfte in der Türkei die Bürgermeister:innenämter gewinnen konnten: „Wenn wir das, was Öcalan beschreibt, innerhalb der Möglichkeiten von Gemeinden aufbauen, können wir echte Gegenstrukturen schaffen – das ist nicht hypothetisch, das ist machbar.“ Und auch gewerkschaftliche Organisationen könnten dabei eine Rolle spielen, betont Öztürk. „Wenn wir etwa Mindestlohnempfänger:innen organisieren, die keinerlei Kapital besitzen, ist das ebenfalls ein Ausdruck von Kommunenlogik. Diese Form der Klassenorganisation ist legitim und vor allem notwendig.“

Emanzipation, Gender, Diversität: Öcalans radikale Sozialkritik

Öztürk hebt besonders hervor, dass Öcalans Text nicht nur strukturell, sondern auch gesellschaftlich weitreichende Perspektiven entwirft. Insbesondere die Aussagen zu patriarchaler Gewalt, Eigentumsverhältnissen im Geschlechterverhältnis und zu queeren Lebensformen seien bemerkenswert.

„Öcalan sagt ganz klar: Männer sind besitzergreifend. Sie versuchen, Frauen in die Ehe und ins Heim zurückzuzwingen – aber das funktioniert nicht mehr. Das System ist dabei zu zerbrechen.“ Der kurdische Repräsentant analysiere, so Öztürk, dass sich die gesellschaftliche Realität inzwischen tiefgreifend verändert habe – etwa durch Digitalisierung, Sichtbarkeit von Lebensmodellen, veränderte wirtschaftliche Bedingungen – und dass Versuche, Frauen in überkommene Rollenbilder zurückzudrängen, in eskalative Gewalt münden.

„Er beschreibt, dass der Versuch, Frauen wieder ins Haus und unter Kontrolle zu bringen, scheitert – und genau daraus entstehen heute Feminizide. Diese Gewalt ist das Ergebnis eines patriarchalen Rückzugsgefechts.“ Diese Analyse verknüpft Öcalan laut Öztürk mit einer expliziten Eigentumskritik im Geschlechterverhältnis: Männer betrachten Frauen weiterhin als Besitz – und genau diese Haltung sei der Nährboden für strukturelle und direkte Gewalt.

Öcalan: LGBTIQ ist vollkommen normal, die Natur bringt Vielfalt hervor

Auch die Aussagen zu queerer Vielfalt seien in ihrer historischen Reichweite ungewöhnlich. Dabei beschränke sich Öcalan nicht auf normative Aussagen, sondern entwickle seine Argumentation auf der Grundlage einer ausführlichen anthropologischen und biologischen Herleitung.

Öztürk beschreibt: „Er baut im Text ein sehr tiefes Argumentationsfundament auf – spricht über Mitose, Meiose, geschlechtliche Reproduktion – und kommt dann zu dem Schluss: Vielfalt ist ein natürlicher Zustand. Er sagt sinngemäß: LGBTIQ ist vollkommen normal, die Natur bringt Vielfalt hervor. Dass das von jemandem kommt, der an der Spitze einer Bewegung mit so großer Praxis steht, und zwar nicht oberflächlich, sondern auf Basis eigener Erkenntnis und Auseinandersetzung, ist wirklich bemerkenswert.“

Kommune als demokratischer Ort realer Gegenmacht

In der Summe erscheint Öcalans Perspektive für Öztürk als Angebot einer politisch-materiellen Transformation – jenseits von Staat, jenseits von Parteizentralismus, jenseits patriarchaler Strukturen: „Die Kommune ist kein Ideal, sondern eine Notwendigkeit. Wenn wir sie aufbauen wollen, müssen wir es ernst meinen – mit Selbstorganisation, mit Gleichheit, mit realer Entscheidungsmacht.“ Mit Blick auf die Geschichte der Sowjets warnt Öztürk davor, auf demokratische Räte zu verzichten: „Wenn die Sowjets verschwinden, dann verschwinden auch die Orte, an denen Sozialismus und Demokratie sich gegenseitig kontrollieren. Das ist die Lehre aus der Geschichte.“

Teil drei der Analysen Hakan Öztürks erscheint am Montag