Umsetzung von Öcalans Friedensinitiative jetzt
In der Hafenstadt Tekirdağ im Nordwesten der Türkei findet an diesem Sonntag der Kongress des Provinzverbands der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM) statt. Unter den vielen Teilnehmenden, die sich unter dem Motto „Wir organisieren uns für Frieden und eine demokratische Gesellschaft“ versammelt haben, ist auch Tülay Hatimoğulları. In einer ausführlichen programmatischen Rede äußerte sich die Ko-Vorsitzende der DEM zu einer Vielzahl von Themen und forderte eine klare politische Wende: soziale Gerechtigkeit, ein Ende der Armut, die Freilassung politischer Gefangener und neue Impulse für die Lösung der kurdischen Frage
Sozialer Notstand und verfehlte Wirtschaftspolitik
Hatimoğulları zeichnete ein düsteres Bild der wirtschaftlichen Lage in der Türkei. Sie sprach von einer „dramatischen Verarmung“ der Bevölkerung: „Rund 50 Millionen Menschen leben heute unterhalb der Armuts- und Hungergrenze.“ Besonders in Arbeiterstädten wie Tekirdağ reiche der Mindestlohn kaum für die Grundversorgung. „70 Prozent der Menschen leben hier vom Mindestlohn. Doch dieser reicht nicht mehr aus, um die Mieten oder die gestiegenen Lebensmittelpreise zu bezahlen.“
Die DEM-Vorsitzende forderte eine sofortige Zwischenanpassung des Mindestlohns und warf der Regierung vor, diese Frage „zum politischen Verhandlungsgegenstand gemacht“ zu haben. Auch Umwelt- und Gesundheitsprobleme in Industriegebieten wie Ergene kritisierte sie scharf: „Die industrielle Entwicklung vergiftet Wasser, Luft und Boden – das trifft insbesondere Arbeiterinnen und ihre Familien.“
„Öcalans Aufruf ernst nehmen, Schritte einleiten“
Ein zentrales Thema ihrer Rede war der Aufruf von Abdullah Öcalan vom 27. Februar, der Frieden und eine demokratische Gesellschaft fordert. Hatimoğulları betonte, dass diese Initiative nicht nur für die Kurd:innen, sondern für die gesamte Demokratisierung der Türkei entscheidend sei: „Sein Appell richtet sich an alle – an Kurd:innen, Alevit:innen, religiöse Gemeinschaften, Frauen, Gläubige, Nichtgläubige.“
Hatimoğulları forderte, dass jede gesellschaftliche Gruppe ihre demokratische Selbstorganisation stärken müsse – als Gegengewicht zu autoritären Strukturen und gewaltsamen Ausprägungen politischer Religion wie etwa bei den Dschihadistenmilizen „Islamischer Staat“ (IS), Boko Haram und anderen. „Ein demokratischer Islam, der auf Gleichheit und Menschenwürde basiert, ist notwendig – gerade auch, um Extremismus entgegenzuwirken.“
Sie verwies in diesem Zusammenhang auch auf die besondere Rolle der Frauenbewegung: „Die kurdische Frauenbewegung hat in Rojava eine weltweite Referenz geschaffen – ‚Jin, Jiyan, Azadî’ ist nicht nur eine Parole, sondern eine Vision.“
Rechtstaatlichkeit und politische Gefangene
Im weiteren Verlauf kritisierte Hatimoğulları, dass es in der Türkei bislang keine greifbaren Schritte der Regierung in Richtung Demokratisierung oder Friedensprozess gebe: „Wenn es keine Demokratie gibt, kann es keinen Frieden geben – diese beiden sind untrennbar.“ Sie forderte konkrete Maßnahmen, wie etwa die umgehende Freilassung politischer Gefangener, darunter Figen Yüksekdağ, Selahattin Demirtaş, Leyla Güven und Ayşe Gökkan, die Umsetzung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), und die Aufhebung repressiver Gesetze, insbesondere im Kontext der sogenannten Kobanê-Prozesse. „Wenn EGMR-Urteile ignoriert werden, wird Recht gebrochen. Die Türkei ist völkerrechtlich verpflichtet, diese umzusetzen“, sagte Hatimoğulları.
Friedensprozess: Kein Automatismus, sondern Verantwortung
Die Politikerin machte deutlich, dass der aktuelle Moment eine Chance für Verhandlungen sei, aber keine Garantie: „Es gibt kein fertiges Protokoll, das nur noch unterschrieben werden muss. Dieser Prozess braucht Organisation, Verantwortung und politischen Mut.“ Sie berichtete von Gesprächen der DEM-Partei mit nahezu allen relevanten politischen und zivilgesellschaftlichen Kräften, auch der parlamentarischen Opposition. „Es gibt viele positive Signale, aber wir brauchen mehr als Worte.“
Vor allem müsse die Gesellschaft aktiv werden: „Die Friedensmütter, die trotz allem den Frieden nicht aufgeben, sind unsere moralische Kraft. Wenn Mütter von Soldaten und Guerillakämpfer:innen in Tekirdağ oder Diyarbakır gemeinsam für den Frieden eintreten, ist das die Grundlage für echte Veränderung.“
Iran-Israel-Konflikt: „Dieser Krieg ist kein Krieg der Völker“
Abschließend ging Hatimoğulları auf den aktuellen Krieg zwischen Israel und Iran ein. Sie warnte vor einer weiteren Eskalation und verwies auf das Risiko von Atomunfällen oder biologischer Kriegsführung: „Dieser Krieg ist nicht der Krieg der Menschen in der Region – er ist ein imperialistisches Machtspiel auf dem Rücken der Bevölkerung.“ Sie forderte die sofortige Beendigung des Konflikts und rief die internationale Gemeinschaft zum Handeln auf: „Ein zweites Tschernobyl oder Schlimmeres darf die Welt nicht zulassen.“
„Entweder organisieren wir uns für den Frieden, oder wir verlieren ihn“
In ihrer abschließenden Botschaft zeigte sich Hatimoğulları kämpferisch: „Wer sagt, Frieden sei unmöglich, irrt. Wir werden zeigen, dass es möglich ist. Gegen Täuschung, Zynismus und Gewalt werden wir Gerechtigkeit, Gleichheit und Frieden organisieren.“ Sie kündigte an, dass die DEM-Partei diesen Weg weitergehen werde – in allen Provinzen, mit Kongressen, Hausbesuchen und Allianzen. „Unsere Alternative ist klar: Entweder organisieren wir uns für den Frieden, oder wir verlieren ihn. Wir wählen den Weg der Organisation.“