Während die PKK sich neu aufstellt und den politischen Lösungswillen unterstreicht, nutzt Ankara die instabile Lage in Syrien und Irak, um kurdische Friedens- und Demokratiebestrebungen systematisch zu untergraben. Der kurdische Journalist und Autor Sefkan Kobanê spricht im Interview über die „taktische Starre“ der Türkei, die militärische Mittel einsetzt, wo politische Initiative gefragt wäre, und warnt vor den Folgen dieses eskalativen Stillstands.
In der aktuellen Diskussion um eine Lösung der kurdischen Frage in der Türkei hat die PKK auf ihrem 12. Kongress weitreichende Entscheidungen getroffen, darunter ihre Selbstauflösung. Im Zentrum steht die Forderung nach Freiheit und arbeitsfähigen Bedingungen für Abdullah Öcalan. Gleichzeitig wurde betont, dass es noch keinen Waffenverzicht gibt und dafür rechtliche und politische Voraussetzungen geschaffen werden müssten. Wie bewerten Sie diese Entscheidungen?
Die PKK hat mit diesen Beschlüssen eine historische Wende eingeleitet. Sie erkennt ihre Rolle im bisherigen Freiheitskampf an, übergibt aber die operative Führung des kommenden Prozesses vollständig an Abdullah Öcalan. Mit der Selbstauflösung verknüpft sie die Forderung, dass Öcalan nicht nur physisch freigelassen, sondern auch unter freien Bedingungen arbeiten und politisch aktiv sein können muss.
Entscheidend ist dabei: Ohne diese grundlegende Voraussetzung, also Öcalans Freiheit, sind die anderen Beschlüsse praktisch nicht umsetzbar. Der Beginn einer neuen Phase hängt somit von Öcalans Rolle in einer zukünftigen Friedensarchitektur ab. Die Verantwortung liegt nun bei der Türkei, diesen Dialogprozess zu ermöglichen.
Wie bewerten Sie die Reaktion der türkischen Regierung? Oft wird betont, es ginge lediglich um die Niederlegung der Waffen, während substanzielle Schritte ausbleiben.
Der türkische Staat verfolgt eine Verzögerungstaktik. Man wartet ab, ob sich durch einen eventuellen US-Rückzug aus Syrien neue geopolitische Chancen ergeben, insbesondere um die Errungenschaften der Kurd:innen in Rojava und in Südkurdistan zu schwächen.
In solchen Phasen dominiert ein tagespolitisch-taktisches Vorgehen, das weder strategisch ausgerichtet ist noch dem Erfordernis einer grundlegenden Neustrukturierung entspricht. Auch wird – den eigenen Bekundungen nach – ein strategisches Verständnis der kurdisch-türkischen Beziehungen bewusst vermieden. Dies deutet auf einen Mangel an Entschlossenheit hin sowie auf das Versäumnis, sich auf die veränderten Rahmenbedingungen auszurichten und entsprechend zu positionieren.
Handelt es sich dabei um einen inneren Machtkonflikt innerhalb der Regierungskoalition? Innerhalb der AKP ist in dieser Frage ein doppeltes Spiel zu beobachten. Doch eines ist offensichtlich: Diese Taktik wird ihnen keinen nachhaltigen politischen Gewinn einbringen. Die aktuelle Phase ist von historischer Bedeutung und befindet sich an einem Punkt, an dem eine Rückkehr nicht mehr möglich ist. Kräfte, die sich der Richtung des historischen Wandels verweigern oder alternative Pfade einschlagen wollen, sind bereits im Mülleimer der Geschichte gelandet. Jene, die weiterhin auf Nationalstaatlichkeit und rigiden Nationalismus beharren, steuern unweigerlich auf ein absehbares Ende zu.
In diesem Zusammenhang ist von einem unterschiedlichen Kurs zwischen Erdoğan und Bahçeli die Rede. So soll Bahçeli die Einsetzung einer parlamentarischen Kommission vorgeschlagen haben, während Erdoğan und sein Umfeld dies ablehnen. Wie ist das zu interpretieren, und wie bewerten Sie diese Differenz?
In der Tat zeichnet sich ein solches Bild ab. Diese Differenzen treten in unterschiedlichen Verlautbarungen immer wieder zutage. Innerhalb des Staatsapparates scheint es ein Spannungsfeld zu geben – zwischen jenen, die den politischen Prozess mitgestalten wollen, und jenen, die ihn bewusst blockieren. Ebenso bestehen innerhalb der AKP selbst Bruchlinien: Auf der einen Seite steht eine Fraktion, die vom Krieg politisch und ökonomisch profitiert, auf der anderen Seite Kräfte, die einen anderen Kurs bevorzugen. Es herrscht ein ständiger Zielkonflikt zwischen den Interessen einzelner Gruppen in Partei und Präsidialamt – sowohl auf diplomatischer als auch politischer Ebene.
Auch die öffentliche Debatte spiegelt diese Widersprüche wider. Während es vonseiten der MHP gelegentlich Erklärungen gibt, die auf eine Rückkehr zu rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien hindeuten, verfolgt die AKP eine gegenteilige Strategie: Sie setzt auf Zeitgewinn, Verzögerungstaktik und Verschleppung.
Über die bloße Hinhaltetaktik hinaus mehren sich inzwischen auch systematisch autoritäre Maßnahmen. Die Repressionen gegen die CHP dauern an. Aus der kurdischen Freiheitsbewegung wurde hierzu die Kritik laut, die Regierung wolle die Opposition spalten. Zugleich gilt: Eine demokratische Lösung der kurdischen Frage ist unabdingbar. Wie bewerten Sie das Verhalten der Regierung in diesem Zusammenhang?
Das, was wir derzeit beobachten, ist Ausdruck eines Machtkampfs zwischen verschiedenen Strömungen, die Anspruch auf politische Führung erheben. Letztlich stehen sich hier zwei Lager gegenüber, die beide aus dem inneren Kern des Staates stammen – sie repräsentieren zentrale Flügel innerhalb des Staatsapparates. Es handelt sich also um eine innerstaatliche Auseinandersetzung um die politische Vorherrschaft.
Solange dieser Machtkampf nicht in Richtung Demokratisierung aufgelöst wird, sondern weiter entlang persönlicher, parteipolitischer oder gar familiärer Interessenlinien geführt wird, bringt er der Türkei keinerlei Fortschritt. Vor diesem Hintergrund ist es essenziell, jene Kräfte zu stärken, die sich – etwa innerhalb der CHP – klar für Demokratie und Frieden aussprechen. Diese Kräfte verdienen uneingeschränkte Unterstützung.
Die Angriffe auf die Opposition zielen ganz offensichtlich darauf ab, den demokratischen Kräften im Land den Weg zu versperren. Eine wirkliche Lösung kann nur durch eine konsequent demokratische Auseinandersetzung gelingen. Sich jedoch lediglich in den innerstaatlichen Machtkonflikt zwischen AKP und CHP hineinziehen zu lassen oder gar zum Erfüllungsgehilfen einer dieser Seiten zu werden, ist keine Option. Aus einem solchen Machtkampf wird die kurdische Bewegung ebenso wenig profitieren wie das demokratische Lager insgesamt.
Und was enthält der von Abdullah Öcalan dem Kongress übermittelte Bericht in Bezug auf den zukünftigen Kampf der Kurd:innen?
Im Zentrum steht der Aufbau eines neuen freien Lebens. Es geht um die Verwirklichung eines demokratischen Gesellschaftsmodells, das den Prinzipien der „Demokratischen Moderne“ entspricht – einem Konzept, das für das 21. Jahrhundert entwickelt wurde und insbesondere auf Geschlechterbefreiung und radikale Demokratie gründet. Die damit verbundene gesellschaftliche Umgestaltung erfordert ein aktives Engagement sowohl der Zivilgesellschaft als auch der politischen Kräfte.
Dieses Vorhaben umfasst eine vielschichtige Auseinandersetzung, die alle Ebenen des gesellschaftlichen Lebens einbezieht – von der Dorfgemeinschaft bis hin zur Nachbarschaft, von Frauen bis zu Jugendlichen, über alle gesellschaftlichen Institutionen hinweg. Die eigentliche Auseinandersetzung beginnt also gerade erst: Es geht um nichts Geringeres als die grundlegende Reorganisation der Gesellschaft.
Öcalan hat bereits vor über zwanzig Jahren die Notwendigkeit dieses Prozesses betont. In seinem 2010 verfassten „Manifest der demokratischen Zivilisation“ legte er die theoretische Grundlage für diesen Ansatz dar. Doch dieser wurde bislang weder ausreichend umgesetzt noch in seiner Tiefe verstanden. In der kurdischen Freiheitsbewegung hat man diese Defizite mittlerweile in selbstkritischer Weise anerkannt.
Jetzt steht der Schritt bevor, das Versäumte nachzuholen: der Aufbau der Demokratischen Nation. Dieser Prozess erfordert eine umfassende Mobilisierung – es ist ein Projekt, das das Engagement aller Teile der Gesellschaft notwendig macht.
Was bedeutet der Aufbau einer Demokratischen Nation konkret? Reicht es aus, den Aufruf Abdullah Öcalans positiv zu bewerten oder sich damit zu identifizieren? Oder was muss geschehen, damit die Gesellschaft selbst zur handelnden Kraft in diesem Prozess wird?
Es bedarf einer umfassenden Selbstorganisierung der Gesellschaft. Auf der Grundlage von Kommunen, ausgehend von der Basis – ökonomisch, intellektuell, im Bildungsbereich –, gilt es, Strukturen aufzubauen, die auf Kooperativen beruhen, Frauen als politische Subjekte einbeziehen und auf Nachbarschafts- sowie Stadtteilebene die Selbstverwaltung realisieren. Jetzt ist die Zeit der Organisierung. Nur wer sich organisiert, kann in dieser Phase bestehen.
Gemeint ist hier eine Organisierung der Gesellschaft trotz und jenseits des Staates. Die Gesellschaft soll gestärkt werden, sich artikulieren und sich selbst verwalten können. Beginnend in den Stadtteilen sollen Versammlungen und Räte entstehen, in denen die Menschen ihre Angelegenheiten eigenständig diskutieren und Entscheidungen treffen.
Eine organisierte Gesellschaft ist zugleich eine handlungsfähige Gesellschaft. In diesem Zusammenhang müssen konkrete Forderungen formuliert und alternative Lösungsansätze entwickelt werden. Die kommunalen Verwaltungen sollten sich in Richtung einer demokratischeren, freieren und initiativfähigeren Struktur entwickeln, die auf gemeinschaftlicher Selbstverwaltung basiert und als solidarisches Subjekt handelt.
In diesem Prozess ist die Gesellschaft die zentrale Akteurin. Sie handelt im eigenen Namen und Interesse. Durch ihr Handeln bringt sie sich zum Ausdruck, organisiert sich und gewinnt dadurch an politischem Gewicht. Auf diese Weise kann sich demokratische Politik nachhaltig entfalten.
Abschließend: Es wird häufig betont, dass die aktuelle Frage in engem Zusammenhang mit den Entwicklungen in Rojava steht. Wie beurteilen Sie dies? Verharrt der türkische Staat weiterhin in einer grundsätzlich kurdenfeindlichen Haltung in Syrien?
Es ist offensichtlich, dass die politische Gleichung in Rojava noch nicht gefestigt ist. Die Lage bleibt unübersichtlich, und die zukünftige Ausrichtung des politischen Systems ist weiterhin offen. Die Konfliktlage in Syrien, in die eine Vielzahl regionaler und internationaler Akteure direkt oder indirekt involviert ist, hat bislang keine stabile Ordnung hervorgebracht.
Die Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien bemüht sich derzeit darum, das politische System Syriens von seinen islamistisch-politischen und rechts-baathistischen Grundlagen zu lösen und in eine neue, demokratischere Richtung zu transformieren. Dieser Prozess vollzieht sich parallel auf zwei Ebenen: durch aktive demokratische Kämpfe sowie durch institutionalisierte Verhandlungen. In diesem Rahmen werden Delegationen entsandt und auf verschiedenen Ebenen politische Gespräche geführt, mit dem Ziel, konkrete Fortschritte zu erzielen.
Gleichzeitig ist festzuhalten, dass innerhalb der Dschihadistenmiliz HTS (Hayat Tahrir al-Sham) zahlreiche divergierende Kräfte existieren, die untereinander in Widerspruch stehen. In der Region Deir ez-Zor beispielsweise sind sowohl HTS-nahe als auch von der Türkei unterstützte Gruppen aktiv geworden. Die Türkei versucht ganz offensichtlich, das Gleichgewicht in der Region gezielt zu destabilisieren.
Befindet sich die Türkei also eindeutig in einer kurdenfeindlichen Position?
Ohne Zweifel – das Ziel der türkischen Regierung besteht darin, die kurdischen Kräfte strategisch zu schwächen, sie in eine machtlose Position zu drängen und sie so letztlich zu Verhandlungen unter ungleichen Bedingungen zu zwingen. Ankara versucht, ihre politischen Forderungen zu minimieren, indem es gezielt die Beteiligung der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) an diplomatischen Gesprächen untergräbt und die Integrität sowie die institutionelle Struktur der Selbstverwaltung zu zersetzen sucht. Wo immer möglich, versucht die Türkei, durch finanzielle Einflussnahme Akteure in Regionen wie Deir ez-Zor für sich zu mobilisieren – sei es unter dem Banner von HTS oder unter dem Vorwand tribaler Strukturen.
Gleichzeitig hält Ankara an der Forderung nach einer vollständigen Entwaffnung der kurdischen Kräfte fest. Doch wer soll hier eigentlich entwaffnet werden – und unter welchen Bedingungen? Angesichts der Tatsache, dass die internationale Staatengemeinschaft Gruppierungen wie HTS als terroristische Organisationen einstuft, erscheint es geradezu paradox, dass sich ausgerechnet die QSD, die für die Verteidigung kurdischer Identität und Autonomie kämpfen, einem Entwaffnungsdruck ausgesetzt sehen. Diese Haltung legt eine zutiefst ideologische Voreingenommenheit offen.
Es handelt sich dabei um eine Form der psychologischen und asymmetrischen Kriegführung. Druck wird ausgeübt, um den politischen Handlungsspielraum zu begrenzen. Doch um diesen komplexen politischen Prozess erfolgreich gestalten zu können, muss Abdullah Öcalan aktiv und unmittelbar in die Verhandlungen eingebunden werden. Die Einheit Syriens lässt sich nur durch eine demokratische Neuausrichtung des Landes erreichen – eine Struktur, die alle Bevölkerungsgruppen, ob Drus:innen, Alawit:innen, Armenier:innen oder andere, gleichberechtigt einbindet. Für eine solche inklusive Ordnung wird aktuell gekämpft.