„Wir teilen Herkunft – aber nicht das Wissen übereinander“

Die Dom in Nahost gelten als nahezu vergessen – sowohl in der akademischen Forschung als auch in der Öffentlichkeit. Ein Interview über Marginalisierung, kulturellen Reichtum und die dringend nötige Verbindung zwischen Dom, Rom:nja und Sinti:zze.

Gespräch mit Adrian Radosta über die Dom in Mesopotamien

Die Dom gehören zu den ältesten, aber gleichzeitig auch zu den am wenigsten sichtbaren Minderheiten in Westasien. Ihre indischen Wurzeln verbinden sie mit den europäischen Rom:nja, doch ihr Schicksal in Ländern wie Syrien, dem Irak oder der Türkei ist von tiefer Ausgrenzung, Unsichtbarkeit und gesellschaftlicher Stigmatisierung geprägt. Im Gespräch mit Adrian Radosta – Rom, angehender Politikwissenschaftler und Aktivist – wird deutlich, wie viel Unwissen über die Dom in Europa herrscht, aber auch, welche kulturellen Verbindungen, Herausforderungen und Hoffnungen die Communities auf beiden Kontinenten verbinden.

Was wissen Sie über die Dom-Gemeinschaft in Kurdistan beziehungsweise Mesopotamien?

Zum ersten Mal bin ich auf die Existenz der Dom gestoßen, als ich als Jugendlicher selbst zur Geschichte von Roma-Ethnien und ethnographischer Literatur recherchierte. Wie zu erwarten war, war die Informationslage äußerst dünn. Es gab ein paar veraltete Reiseberichte europäischer „Z*geuner“-Forschender, einige linguistische Arbeiten über das Domari – die Sprache der Dom – und deren Verwandtschaft zum Romanes. Beide Begriffe, „Dom“ und „Rom“, lassen sich übrigens auf die indische Kaste der „Domb“ zurückführen.

Der Großteil der übrigen Quellen stammte von humanitären Organisationen und berichtete über die extreme Marginalisierung der Dom im Irak: häufig staatenlos, von islamistischen Akteur:innen verfolgt, in Ghettos gedrängt und gezwungen zu fliehen. Besonders eindrücklich erinnere ich mich an ein Interview, in dem berichtet wurde, dass Islamisten die Dom gezielt angreifen, da ihre musikalischen und tänzerischen Traditionen als „haram“ gelten – ein antiziganistisches Motiv, das sich sogar bis in westliche Gesellschaften hinein verfolgen lässt.

Ein prägender Moment war dann mein Treffen mit der kurdischen Staatssekretärin für Minderheitenfragen, Florin Seudin (Leiterin der Abteilung für ethnische und religiöse Minderheiten in der Kurdistan-Region des Irak (KRI), Anm. d. Red.), während meines Bundestagspraktikums. Ich konnte ihr einige Fragen zur Situation der Dom stellen. Sie erzählte mir, dass viele Dom ihre Zugehörigkeit aus Angst verschweigen, während andere hohes Ansehen als Dentaltechniker:innen, Metallarbeiter:innen oder Künstler:innen genießen. Dom sind kulturell tief in der Region verankert – sie sind Teil des kulturellen Nexus Mesopotamiens.

Was unterscheidet die Dom in Mesopotamien von den Rom:nja oder Sinti:zze in Europa?

In den Tiefen des Internets bin ich auf einige wichtige Dom-Akteur:innen gestoßen: zum Beispiel Amoun Sleem aus West-Jerusalem oder Kamal Kelzi, ein aus Aleppo geflüchteter Dom-Aktivist, den ich inzwischen persönlich kenne. Auch der libanesische Musiker „G*psy Prince Bilal“ hat mir neue Perspektiven eröffnet. Erst da wurde mir klar: Die Dom und Rom:nja teilen eine indische Herkunft und eine transnationale Kultur, aber sie hatten lange kaum Wissen übereinander. Dabei gibt es gerade entlang der türkisch-kurdischen Grenze viele Überschneidungen.

Anthropologisch lässt sich sagen, dass beide Gruppen vor etwa tausend Jahren vom indischen Subkontinent aus migriert sind, sich aber in Westasien trennten. Die Dom gehören heute fast ausschließlich dem sunnitischen Islam an – im Gegensatz zur religiösen Diversität unter den Rom:nja. Um tiefere Unterschiede wirklich zu begreifen, braucht es endlich mehr Austausch zwischen beiden Communities, denn die wissenschaftliche Forschung hat die Dom bislang kaum beachtet.

Adrian Radosta ist 23 und studiert Politik- sowie Religionswissenschaft. Als Stipendiat engagiert er sich seit Jahren in der politischen Bildungsarbeit, unter anderem im Bundestag und Ministerien, mit dem Fokus auf Inklusion und Erinnerungskultur. Er arbeitet am europaweiten TAAO-Projekt zu Antiziganismus mit und initiiert aktuell den ersten bundesweiten Jugendverband deutscher Sint:izze und Rom:nja. Foto © privat


Gibt es eine politische oder kulturelle Verbindung zwischen den Dom im Nahen Osten und den Rom:nja in Europa?

Verbindungen entstanden erst durch das Internet und die wachsende Romani-Forschung. Einzelne Aktivist:innen und Sprachwissenschaftler:innen begannen erste Dialoge. Ein Grund, warum das nicht früher geschah, liegt in der extremen Marginalisierung beider Gruppen. Politisch gibt es bis heute keinerlei institutionelle Verbindungen. Der Fokus des Roma-Aktivismus liegt vor allem auf Europa und Teilen der Türkei. Die Dom wiederum haben aufgrund von Flucht, Krieg und Armut ganz andere Prioritäten.

Ein Austausch findet, wenn überhaupt, in der Diaspora statt. Kamal Kelzi zum Beispiel kooperierte mit Roma-Content-Creator:innen auf Social Media, um die Dom-Sprache sichtbarer zu machen – aber das alles ist noch sehr niedrigschwellig.

Welche Rolle spielen die Dom in den Gesellschaften Syriens, des Irak oder der Türkei?

Dieser Punkt macht die Lebensrealität der Dom besonders nachvollziehbar – auch aus Perspektive der Rom:nja. Sie sind oft gezwungen, körperlich harte und schlecht bezahlte Arbeit zu leisten, leben an den Rändern der Städte und werden nicht als eigenständige ethnische Gruppe anerkannt. Zwei Zitate sind mir besonders im Gedächtnis geblieben: Ein syrischer Dom sagte, die Mehrheitsgesellschaft habe kein Bewusstsein für ihre Sprache oder Kultur. Eine Syrerin gab offen zu, dass sie den Begriff „Dom“ nie zuvor gehört habe. Erst als man ihr erklärte, dass damit die angeblichen „Bettler und Zigeuner“ gemeint seien, habe sich für sie eine neue Realität eröffnet.

Dom arbeiten überproportional häufig in der Zahnmedizin, in der Metallverarbeitung und in der Musik- und Tanzszene – oft erfolgreich. Doch sie gelten häufig nur als „Objekte von Armut“ oder „Mystifizierung“. Ihre Leistungen werden ignoriert oder vereinnahmt, wie viele Rom:nja das ebenfalls kennen.

Wie wirkt sich Armut oder soziale Ausgrenzung auf ihre Lebensweise aus?

Viele Dom im Irak und in Syrien konnten erst ab den 1970er Jahren überhaupt Staatsbürgerschaften erhalten – obwohl sie dort seit Jahrhunderten leben. Die Kriege haben ihre Situation dramatisch verschlechtert. Islamistische Propaganda brandmarkt ihre Kultur als unmoralisch, und viele Dom sind gezwungen, in Zelten zu leben, sich durch Tagelöhne oder Schrottsammeln über Wasser zu halten.

Dieser Zustand nährt Vorurteile: Dom-Kindern wird der Schulzugang verwehrt, und Menschen verlieren erneut ihre Staatsbürgerschaft – „weil sie ja keine echten Iraker:innen, sondern Zigeuner:innen“ seien. Wer dem entkommt, verleugnet oft seine Herkunft, um überhaupt eine Chance auf Aufstieg zu haben. So bleiben stereotype Bilder bestehen.

In der arabischen Welt kursiert das Gerücht, die Sprache der Dom – auch „Sprache der Vögel“ genannt – sei nur eine verschlüsselte Form des Arabischen, um Kriminalität zu verschleiern. Ihre Mehrsprachigkeit (Domari, Arabisch, Kurdisch, Türkisch) wird als Täuschung interpretiert – ein Vorwurf, den auch viele Rom:nja in der Diaspora kennen.

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen der Sprache der Dom in Indien und der Rom:nja in Europa?

Die Dom-Kaste ist in Indien weit verbreitet und spricht unterschiedliche Sprachen. Romanes wird jedoch – genau wie Urdu und Hindi – zu den zentralindischen Sprachen gezählt. Es ist die einzige indische Sprache, die ausschließlich außerhalb Indiens gesprochen wird. Viele Grundbegriffe wie Zahlen, Körperteile oder Naturphänomene sind fast unverändert geblieben. Manchmal erkennen wir sogar Wortfetzen in Bollywood-Filmen – das ist immer wieder berührend.

Wie wichtig sind Musik, Tanz oder Handwerk in der Kultur der Dom oder Rom:nja?

Musik, Tanz und Metallhandwerk sind wichtig – aber nicht, weil sie „unsere Natur“ wären. Sondern weil diese Bereiche oft die einzigen offenen Erwerbsmöglichkeiten waren. Deshalb wurden Dom und Rom:nja in diesen Branchen zu Expert:innen. Gleichzeitig werden wir nur über diese Rollen wahrgenommen – exotisiert, romantisiert, reduziert.

Dabei ist es ein Paradox: Im Irak wurden Dom gerade wegen ihrer künstlerischen Fähigkeiten verfolgt. Für mich sind Musik und Tanz deshalb Akte des Widerstands – keine folkloristische Selbstverwirklichung. Wir besitzen kein einheitliches Territorium, keine zentrale Religion, keine standardisierte Sprache. Was uns bleibt, ist das Gemeinsame im Klang und das Gefühl, einer „Schicksalsgemeinschaft“ anzugehören. Deshalb fühle ich mich bei Flamenco zu Hause – obwohl ich nie in Spanien war. Und deshalb hörte mein kosovarischer Vater Drafi Deutscher und Marianne Rosenberg, obwohl er damals kaum Deutsch sprach.

Was wünschen Sie sich für die internationale Zusammenarbeit von Dom-, Roma- und Sinti-Aktivist:innen?

Zuerst wünsche ich mir mehr Forschung zur Geschichte und Kultur der Dom, um überhaupt Wissen aufzubauen. Danach wünsche ich mir Zugänge zur Dom-Diaspora in Europa, direkte Dialoge, Austausch. Und langfristig wünsche ich mir, die Dom in ihren Herkunftsländern besuchen zu können – nicht als Beobachter, sondern als Verwandter.

In vielen Ländern werden Rom:nja und Dom politisch instrumentalisiert oder vergessen. Wie können sie sich selbstbestimmt Gehör verschaffen?

Die entscheidende Aufgabe ist Sichtbarkeit. Menschen aus unseren Communities müssen den Mut finden, sich öffentlich zu zeigen – jenseits der Stereotype. Wenn wir uns selbstbewusst positionieren, können wir die Narrative der Mehrheitsgesellschaft unterwandern. Das ist nicht leicht, denn die Bilder von Armut und Fremdheit sind hartnäckig und bequem. Sie erklären die Lebensrealität der Minderheiten, ohne die historische Verantwortung zu hinterfragen.

Und was wünschen Sie sich für die Zukunft der Dom-, Roma- und Sinti-Gemeinschaften weltweit?

Etwas ganz Simples: Dass wir endlich als normale, legitime und gleichberechtigte Bürger:innen in den Gesellschaften gesehen werden, in denen wir seit über 600 Jahren leben – ohne das Stigma des „ewig Fremden“.