„Die kurdische Frage ist kein parteipolitisches Spielfeld“
In einem ausführlichen Gespräch mit dem Journalisten Ersin Çaksu analysierte Hêlîn Ümit im kurdischen Fernsehsender Medya Haber die aktuelle politische Entwicklung der PKK nach dem zwölften Parteikongress, den Paradigmenwechsel von der bewaffneten zur politischen Auseinandersetzung und die damit verbundenen Herausforderungen in der Beziehung zwischen der kurdischen Bewegung und dem türkischen Staat. Im Zentrum stand die Frage, wie eine demokratische und inklusive Lösung der kurdischen Frage unter Einbezug gesellschaftlicher, historischer und rechtlicher Perspektiven realisiert werden kann.
Paradigmenwechsel: Aufhebung der bewaffneten Strategie
Mit dem zwölften Parteikongress vollzog die PKK Anfang Mai einen strategischen Einschnitt: Der Abschied von der bewaffneten Auseinandersetzung mit dem türkischen Staat markiert einen paradigmatischen Wandel, der laut Hêlîn Ümit keineswegs Ausdruck von Schwäche, sondern einer strategischen Reife sei. „Wir sprechen hier nicht von einem Rückzug, sondern von einem Übergang – weg von der bewaffneten Konfrontation hin zu einer demokratischen Gesellschaftsgestaltung.“ Der Beschluss, die Organisation in ihrer bisherigen Form aufzulösen, sei Ergebnis einer jahrzehntelangen Vorbereitungsphase, die insbesondere in der politischen Philosophie Abdullah Öcalans begründet liegt.
Demokratische Selbstorganisation statt staatsfixierter Politik
Hêlîn Ümit betonte, dass die kurdische Bewegung keine Reformen oder Zugeständnisse vom Staat erbittet, sondern auf die Selbstorganisation demokratischer Strukturen und Zivilgesellschaften setzt. Der Aufbau eines demokratischen Kontrastsystems mit Fokus auf Frauenbefreiung, ökologische Nachhaltigkeit und gemeinschaftsorientierter Politik sei Grundlage der neuen Strategie. Die aktuelle Umstrukturierung sei als Fortführung Öcalans politischer Philosophie zu verstehen, die bereits vor Jahrzehnten konzeptionell vorbereitet wurde. „Seit über 40 Jahren bereitet sich der Vorsitzende auf genau diesen Moment vor – auf eine Transformation, die von innen kommt, nicht von außen erzwungen wird“, betonte sie.
Hêlîn Ümit und Ersin Çaksu
Staatliche Rhetorik versus strukturelle Blockaden
Schritte in Richtung eines echten Friedensprozesses blieben bislang allerdings aus. Obwohl einzelne Stimmen aus der politischen Elite der Türkei, darunter auch MHP-Chef Devlet Bahçeli, ein Umdenken andeuten, bleibe der Staat laut Ümit auf struktureller Ebene unverändert. Der politisch-juristische Ausnahmezustand, in dem sich insbesondere Abdullah Öcalan durch die Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali befindet, verunmögliche echte politische Verhandlungen, und auch die Rede vom „Recht auf Hoffnung“ bleibe symbolisch, solange keine rechtliche Grundlage geschaffen werde: „Was nützen Worte, wenn sie nicht von institutionellen Reformen begleitet werden? Demokratische Politik kann sich nicht auf Lippenbekenntnisse stützen. Öcalans Freiheit ist keine Randbedingung, sondern die Grundlage für eine glaubwürdige Lösungsperspektive – ohne seine Mitwirkung bleibt jede Initiative fragmentarisch. Doch die politischen Signale aus dem Machtzentrum sind äußerst widersprüchlich – zwischen öffentlicher Rhetorik und tatsächlicher Reformbereitschaft klafft eine tiefe Lücke.“
Rolle des Parlaments und Notwendigkeit einer Verfassungskommission
Hêlîn Ümit forderte das Parlament zur Übernahme seiner Verantwortung in der kurdischen Frage auf. Die größte gesellschaftspolitische Herausforderung der Republik Türkei dürfe nicht allein den Regierungsparteien überlassen bleiben. „Wenn das türkische Parlament eine demokratische Vertretung des Landes sein will, muss es die Verantwortung für die Lösung der kurdischen Frage übernehmen“, sagte sie. Ein parteiübergreifender Verfassungskonvent zur Anerkennung kurdischer Identität und Rechte sei notwendige Voraussetzung für jede glaubhafte Friedensstrategie. „Die kurdische Frage ist kein parteipolitisches Spielfeld – sie ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die einen überparteilichen Schulterschluss verlangt.“
Gesellschaftspolitische Dimension: Erinnerung, Identität und Verantwortung
Ümit verwies auch auf die Bedeutung kollektiver Erinnerung und kritischer Geschichtsschreibung. Ohne gemeinsame Reflexion über die Gründungsgeschichte der Republik, koloniale Kontinuitäten und nationale Ausschlussmechanismen sei weder eine neue Verfassung noch ein tragfähiges Gesellschaftsmodell denkbar. Die „Vergangenheit teilen, um Zukunft zu gestalten“ sei der Schlüssel einer demokratischen Neugründung.
„Krieg als Industrie“: Ökonomische Interessen als Friedenshindernis
Besondere Aufmerksamkeit schenkte Hêlîn Ümit den strukturellen Interessen am Fortbestehen des Krieges. Die Rüstungsindustrie, verbunden mit bestimmten Teilen der Medienlandschaft, habe sich über Jahrzehnte an einem Zustand des permanenten Ausnahmezustands bereichert. Auch innerhalb der AKP gebe es Machtzirkel, die an einer Eskalation festhalten, um politische wie ökonomische Kontrolle zu sichern.
Medien, Sprache und politischer Diskurs
Hinzu käme, dass der mediale Diskurs, insbesondere der „Antiterrordiskurs“, laut Ümit eine realistische Auseinandersetzung mit der kurdischen Frage verhindere. Eine Transformation des gesellschaftlichen Diskurses sei jedoch nur durch einen Wechsel der Begriffe und Denkweisen möglich. Die aktuelle Sprachpraxis eröffne keinen Dialog, sondern zementiere Frontstellungen. „Wer ernsthaft von einem Neuanfang spricht, muss auch die Sprache verändern – mit Kriegsrhetorik lässt sich kein Frieden gestalten. Die Medien tragen Verantwortung: Sie können den Diskurs öffnen oder weiterhin zur Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas beitragen“, betonte Ümit.
Demokratisierung jenseits von Parteienlogik
Sie stellte zudem klar: „Es geht nicht um Koalitionen oder taktische Allianzen, sondern um einen gesamtgesellschaftlichen Demokratisierungsprozess.“ Die kurdische Bewegung begreife sich als Teil einer breiteren demokratischen Opposition, die sich für ein inklusives, pluralistisches Gemeinwesen einsetzt. Die Initiative zur Entmilitarisierung sei kein Rückzug, sondern ein strategischer Vorstoß für eine neue politische Epoche. „Wir richten uns auch nicht nur an die kurdische Gesellschaft – unser Aufruf gilt allen demokratischen, sozialistischen und emanzipatorischen Kräften in der Türkei. Die kurdische Bewegung ist keine Insellösung. Sie steht im Dialog mit den historischen Linien der linken Bewegung in der Türkei – mit Mahir, Deniz und Ibrahim.“