Hakan Öztürk zu Öcalans Perspektiven: „Internationalismus konkret“

Abdullah Öcalans Perspektivenpapier kritisiert nicht nur Kapitalismus, Nationalstaat und Industrialismus – es entwirft die Vision eines handlungsfähigen Internationalismus. Hakan Öztürk (EHP) analysiert, warum diese Programmatik global bedeutsam ist.

Vorsitzender der Partei der Werktätigen

Die von Abdullah Öcalan zum 12. Kongress der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) übermittelten „Perspektiven“ haben in verschiedenen politischen Milieus – insbesondere in sozialistischen Kreisen der Türkei – lebhafte Diskussionen ausgelöst. Das Dokument, das als programmatische Skizze für eine ideologische Neuausrichtung der PKK gelesen werden kann, adressiert zentrale Gegenwartsfragen im Schnittfeld von Kapitalismuskritik, Nationalstaatsanalyse und ökologischer Systemkritik. Hakan Öztürk, Vorsitzender der Partei der Werktätigen (EHP), unterzieht den Text einer umfassenden politischen und theoretischen Bewertung. Dabei steht insbesondere der internationalistische Impuls im Fokus.

Ausweitung des Problemrahmens: Kapitalismus, Nationalstaat, Industrialismus

Öztürk betont zunächst die analytische Tiefe und die systematische Erweiterung des Problemverständnisses im Perspektiventext. Öcalan begnüge sich nicht mit einer Kritik am Kapitalismus im engeren Sinne, sondern stelle zusätzlich den Nationalstaat und den Industrialismus als strukturelle Grundprobleme infrage.

„Kapitalismus wird klar kritisiert – und ebenso der Nationalstaat und der Industrialismus. Die Problemfelder sind erweitert, das macht auch den Lösungshorizont größer“, so Öztürk. Diese Trias – Kapitalismus, Nationalstaat, Industrialismus – bilde den erweiterten Problembereich, aus dem heraus sich die Notwendigkeit einer neuen globalen Lösung ableite.

Öztürk hebt hervor, dass viele heutige linke Bewegungen lediglich fragmentierte Kämpfe führen, ohne systemisch zu denken, während Öcalans Analyse einen konsequent erweiterten Rahmen eröffne: „Das ist ein Zugang, den wir in vielen heutigen Bewegungen vermissen. Der Text benennt die Krise umfassend – als Krise des Systems, nicht nur einzelner Symptome.“

Politisches Programm und ökosozialistische Perspektive

Ein zentraler Aspekt der Analyse Öztürks betrifft den programmatischen Charakter des Textes. Er würdigt, dass Öcalans Perspektiven nicht nur eine Diagnose bieten, sondern konkrete strukturelle Alternativen formulieren:

▪ Gegen den Kapitalismus: eine kommunalistische Ökonomie

▪ Gegen den Nationalstaat: das Modell der demokratischen Nation

▪ Gegen den Industrialismus: ein ökologisch fundiertes Wirtschaftssystem, ein Ökosozialismus

„Der Text ist kein abstrakter Appell. Er benennt konkret, was zu tun ist – nicht im luftleeren Raum, sondern entlang realer gesellschaftlicher Konfliktlinien. Diese programmatische Klarheit stellt, gerade im Vergleich zur gegenwärtigen türkischen Linken, einen bedeutenden Fortschritt dar“, meint Öztürk und betont: „Das ist nicht nur erfreulich – es ist auch eine enorme Chance. Eine klare Position gegen Kapitalismus, gegen den Nationalstaat und gegen den zerstörerischen Industrialismus.“

Die demokratische Nation als Alternative zum ethnonationalen Staat

Im Abschnitt zur Nationalstaatskritik macht Öztürk deutlich, dass der im Text formulierte Begriff der demokratischen Nation auch mit den Grundpositionen der EHP korrespondiere. „Anstatt ein auf Abstammung beruhendes Nationsverständnis zu reproduzieren, wird ein Modell vorgeschlagen, das auf Gleichheit, Bürger:innenrechten und gemeinschaftlicher Organisierung basiert. Denn demokratische Nation heißt: Raus aus dem Bande des Blutes, hin zur gleichberechtigten Bürger:innenbeziehung – das ist der entscheidende Unterschied. Es ist ein Modell, das auch global als positives Beispiel wirken kann.“

Öztürk warnt vor der Illusion, ethnisch homogene Nationalstaaten könnten im Nahen Osten oder anderswo stabile politische Ordnungen hervorbringen. „Wenn man solche Nationalstaaten überall errichten wollte, wäre das ein Rezept für weitere Katastrophen. Die Lösung kann nur in einem gemeinsamen Leben liegen – in Koexistenz, nicht in Abgrenzung.“

Internationalismus der Nationen: Vision und politische Realität

Zentral für Öztürks Analyse ist der von Öcalan formulierte Aufruf zum Internationalismus beziehungsweise einer neuen Internationalen. Dieser wird von dem EHP-Politiker nicht als idealistische Geste, sondern als realpolitischer Vorschlag einer Bewegung verstanden, die über erhebliche organisatorische, politische und theoretische Ressourcen verfügt: „Wenn eine Bewegung mit dieser Stärke und theoretischen Tiefe sagt: ‚Lasst uns international denken und handeln‘, dann ist das keine intellektuelle Spielerei – sondern eine reale Chance auf Veränderung.“

Öztürk betont, dass der Internationalismus der kurdischen Bewegung alle unterdrückten Klassen und Völker einschließe und sich ausdrücklich gegen jede Form von Exklusivität wende. „Das ist ein Aufruf zum Internationalismus der Nationen. Er kommt nicht aus einem Elfenbeinturm, sondern aus der realen Erfahrung eines Volkes, das unterdrückt wurde – und trotzdem nie in Feindschaft gegenüber anderen verfallen ist.“

Die historische Rolle der kurdischen Bewegung

Der Sozialist Hakan Öztürk hebt auch die historische Verantwortung der kurdischen Bewegung vor. So wie in früheren Zeiten zentrale Fragen der Linken an Russland gerichtet wurden, richte sich heute der Blick vieler progressiver Akteur:innen auf die Erfahrungen der Kurd:innen. Wer politische Verantwortung übernimmt und Fortschritt schafft, dem wird zugehört – das ist der Gang der Geschichte. Die kurdische Bewegung lebt bereits heute konkrete politische Modelle vor – etwa mit den Rätedemokratien in Rojava oder der Implementierung säkularer und partizipativer Strukturen. Und wenn eine Bewegung, die all das aufgebaut hat, sagt: ‚Lasst uns eine Internationale ins Leben rufen, dann ist das keine Utopie, sondern eine historische Möglichkeit.“

Teil zwei des Gesprächs mit Hakan Öztürk über die Perspektiven Abdullah Öcalans erscheint am Sonntag auf ANF Deutsch.