100. Jahrestag der Hinrichtung von Şêx Seîd
Anlässlich des 100. Jahrestages der Hinrichtung von Şêx Seîd und seinen Mitstreitern organisiert der gleichnamige Verein an diesem Samstag in Amed (tr. Diyarbakır) einen Workshop unter dem Titel „100 Jahre in Kurdistan: Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden“. Die Veranstaltung findet in einem Hotel im Altstadtbezirk Sûr unter der Teilnahme zahlreicher politischer und zivilgesellschaftlicher Akteur:innen statt.
Zu den Teilnehmenden zählten unter anderem die Ko-Vorsitzende der Partei der demokratischen Regionen (DBP), Çiğdem Kılıçgün Uçar, mehrere Abgeordnete der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM), Ameds Ko-Bürgermeister Doğan Hatun sowie Vertreter:innen von NGOs, Intellektuelle und Autor:innen.
„Şêx Seîd widersetzte sich der Entwurzelung“
In seiner Eröffnungsrede erinnerte Kasım Fırat, Vorsitzender des Şêx-Seîd-Vereins und Enkel des bekannten kurdischen Geistlichen, an die politischen Umstände in den 1920er Jahren, insbesondere an Gesetze aus dem Jahr 1924, die die kurdische Sprache, Identität und Rechte aus der Verfassung ausschlossen. Diese rechtliche Ausgrenzung sei Auslöser für den Aufstand gewesen, sagte Fırat.
Kasım Fırat
Er zitierte dabei seinen Großvater mit den Worten: „Ich ergebe mich nicht. Ich habe meine Sprache, meinen Glauben, meine Überzeugung – mit ihnen will ich leben.“ Fırat betonte: „Şêx Seîd leistete Widerstand bis zum letzten Augenblick – gegen Unterdrückung, gegen Sprach- und Religionsverbot, gegen Identitätsraub.“
Aufruf zur Einheit und zur Aufarbeitung
Kasım Fırat machte zudem auf einen bis heute ungelösten Punkt aufmerksam: Die Familie weiß nach wie vor nicht, wo sich das Grab von Şêx Seîd befindet. „Seit Jahrzehnten stellen wir diese Frage, aber der Staat schweigt und weigert sich, den Ort seiner Gebeine preiszugeben“, sagte er.
Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen rief Fırat zur innerkurdischen Debatte über gemeinsame Ziele auf: „Kurdinnen und Kurden brauchen Einheit, sie brauchen Frieden. aber einen Frieden mit Würde. Dafür braucht es auch eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Geschichte.“ Der Workshop wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit fortgesetzt.
Der Aufstand des Şêx Seîdê Pîran
Der am 13. Februar 1925 im Dorf Pîran in Gêl (Eğil) bei Amed unter der Führung von Şêx Seîdê Pîran (dt. Scheich Said) ausgebrochene Aufstand machte den Anfang zahlreicher Rebellionen der Kurd:innen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die dem Prozess der türkischen Nationalstaatsbildung nach dem Fall des Osmanischen Reiches folgten und sich gegen die Verleugnung der kurdischen Existenz, dem Entzug der politischen Autonomie und die faschistische Türkisierungspolitik richteten.
Der Aufstand umfasste neben Amed auch die Regionen Xarpêt (Elazığ) und Çewlîg (Bingöl) und weitete sich im weiteren Verlauf auch auf andere Teile des kurdisch besiedelten Gebietes in der heutigen Türkei aus. Wenige Wochen später, am 26. März 1925, begannen türkische Militäreinheiten Luft- und Bodenangriffe auf vermutete Rückzugsorte von kurdischen „Aufständischen“, nachdem zunächst 25.000 Soldaten in die Region verlegt worden waren. Anfang April erreichte die Truppenstärke etwa 52.000 Mann: der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, mindestens 15.000 Menschen wurden getötet.
Ende April wurden Şêx Seîd und eine Vielzahl seiner Mitstreiter in Mûş gefasst. Ein Schwager des Geistlichen, der als Offizier im Osmanischen Reich gedient hatte, hatte sie verraten. Nach ihrer Überführung nach Amed wurden Şêx Seîd und 46 seiner Weggefährten am 28. Juni 1925 zum Tode verurteilt. Einen Tag später folgte die öffentliche Hinrichtung.