Şêx Seîd: Gericht weist Klage auf Preisgabe von Grabstätte ab

Ein türkisches Gericht hat eine Klage auf Preisgabe der Grabstätte des kurdischen Geistlichen und Widerstandsanführers Şêx Seîd abgewiesen. Die Antragsteller sind entschlossen, sich durch alle Instanzen zu kämpfen.

Ein Gericht in Ankara hat die Klage der Anwaltskammer von Diyarbakır (ku. Amed) auf Preisgabe der Grabstätte des kurdischen Geistlichen und Widerstandsanführers Şêx Seîd abgewiesen. Zur Begründung der Abweisung des Antrags führte die Kammer des türkischen Verwaltungsgerichts aus, dass Dokumente aus dem Staatsarchiv keine Auskünfte über die Grabstätte geben würden. Die Antragsteller weisen die Angaben als unwahr zurück und wollen nun vor das Landesverwaltungsgericht ziehen.

Der am 13. Februar 1925 im Dorf Pîran in Gêl (tr. Eğil) bei Amed unter der Führung von Şêx Seîdê Pîran (Scheich Said) ausgebrochene Aufstand machte den Anfang zahlreicher Rebellionen der Kurdinnen und Kurden nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die dem Prozess der türkischen Nationalstaatsbildung nach dem Fall des Osmanischen Reiches folgten und sich gegen die Verleugnung der kurdischen Existenz, dem Entzug der politischen Autonomie und die faschistische Türkisierungspolitik richteten. Der Aufstand umfasste neben Amed auch die Regionen Xarpêt (Elazığ) und Çewlîg (Bingöl) und weitete sich im weiteren Verlauf auf nahezu das gesamte kurdisch besiedelte Gebiet in der heutigen Türkei aus.

Wenige Wochen später, am 26. März 1925, begannen türkische Militäreinheiten Luft- und Bodenangriffe auf vermutete Rückzugsorte von kurdischen „Aufständischen“, nachdem zunächst 25.000 Soldaten in die Region verlegt worden waren. Anfang April erreichte die Truppenstärke etwa 52.000 Mann: der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, mindestens 15.000 Menschen wurden getötet. Ende April wurden Şêx Seîd und eine Vielzahl seiner Mitstreiter in Mûş gefasst. Ein Schwager des Geistlichen, der als Offizier im Osmanischen Reich gedient hatte, hatte sie verraten. Nach ihrer Überführung nach Amed wurden Şêx Seîd und 46 seiner Weggefährten am 28. Juni 1925 zum Tode verurteilt. Einen Tag später folgte die öffentliche Hinrichtung.

Um jegliche Kultentwicklung zu unterbinden, ließ der türkische Staat Şêx Seîds Körper und die seiner Weggefährten an einem geheimen Ort verscharren. Das Massengrab hätte sich sonst zu einem mythologischen Wallfahrtsziel entwickeln können, dies galt es zu verhindern. Der Verein Komeleya Şêx Seîd, der von Mehmet Kasım Fırat, einem Enkel des Geistlichen, gegründet wurde, setzt sich seit Jahren für die Offenlegung von Informationen zu der Grabstätte ein. Doch wie schon in den ersten Tagen nach den Hinrichtungen stößt dieses Anliegen in Ankara auf taube Ohren. Im Februar 2022 hatte der Verein schließlich mit Unterstützung der Rechtsanwaltskammer Diyarbakır einen Antrag beim türkischen Innenministerium eingereicht und die Koordinaten des Massengrabs von Şêx Seîd und seinen Freunden gefordert. Das Ministerium ließ die vierwöchige Frist zur Gewährung des Informationszugangs jedoch verstreichen. Damit öffnete sich der Weg für Klagen durch alle Instanzen.

Sollte auch die Beschwerde beim Landesverwaltungsgericht keinen Erfolg haben, wären die nächsten Stationen zunächst der türkische Staatsrat (Danıştay) und anschließend der Verfassungsgerichtshof. Entscheidet auch die letzte Instanz im Sinne von Ankara, wäre der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft. Dann stünde den Klägern der Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zu. Der Verein Komeleya Şêx Seîd und die Anwaltskammer in Amed sind entschlossen, sich durch alle Instanzen zu kämpfen, um  Şêx Seîd und seinen Freunden ein ehrenvolles Andenken zu erschaffen.