Haft zur Unterdrückung von Pluralismus
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Türkei erneut wegen der Inhaftierung des ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş verurteilt. In seinem am Dienstag veröffentlichten Urteil (AZ. 13609/20) stellte der Gerichtshof fest, dass die langjährige Untersuchungshaft des kurdischen Politikers zwischen September 2019 und seiner Verurteilung im Jahr 2024 nicht ausreichend begründet war und vor allem politischen Zwecken diente.
Die Richter:innen urteilten, die Maßnahmen der türkischen Behörden hätten darauf abgezielt, „den politischen Pluralismus zu unterdrücken und den demokratischen Diskurs einzuschränken“. Damit habe die Türkei gegen Artikel 10 (Meinungsfreiheit) und Artikel 5 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Der Gerichtshof sprach Demirtaş daher eine Entschädigung in Höhe von 35.000 Euro für immaterielle Schäden sowie 20.000 Euro für Verfahrenskosten zu.
Demirtaş sitzt seit November 2016 in Haft. In einem umstrittenen Urteil war er im vergangenen Jahr wegen angeblicher Anstiftung zu Protesten während der Belagerung Kobanês durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) zu einer Freiheitsstrafe von 42 Jahren verurteilt worden. Bereits 2020 hatte der EGMR die Türkei im Zusammenhang mit seiner ersten Haftphase (2016–2019) zur sofortigen Freilassung Demirtaş’ aufgefordert – ohne Erfolg. Die türkische Regierung ignorierte das Urteil, Präsident Recep Tayyip Erdoğan sprach von einem politischen Eingriff.
Die jetzige Entscheidung bezieht sich explizit auf die zweite Phase der Inhaftierung ab 2019. In der Urteilsbegründung kritisierte der EGMR erneut die politisch motivierte Anwendung des Strafrechts gegen Oppositionspolitiker:innen und warf der türkischen Justiz mangelnde Unabhängigkeit und politische Instrumentalisierung des Justizsystems vor. Die Regierung in Ankara hat die Möglichkeit, gegen das Urteil Berufung beim Großen Senat des EGMR einzulegen. Ob sie dies tut, ist derzeit unklar.