Fortsetzung der Justizfarce: Kobanê-Verfahren 2.0

In Ankara droht der nächste Stellvertreterprozess aus Rache für den Sieg gegen den IS. Die Oberstaatsanwaltschaft hat eine neue Anklage wegen der Kobanê-Proteste 2014 erhoben. Fünf Ex-Abgeordnete der HDP sollen für tausende Jahre ins Gefängnis.

Türkische Rachejustiz

Keine zwei Wochen nach den Skandal-Urteilen gegen die ehemalige HDP-Leitung im sogenannten Kobanê-Verfahren in der Türkei will die Oberstaatsanwaltschaft Ankara einen neuen Prozess im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê lostreten. Am Dienstag reichte die Behörde Anklage gegen fünf frühere Abgeordnete der HDP ein. Sie wirft Hüda Kaya, Serpil Kemalbay, Fatma Kurtulan, Garo Paylan und Pero Dündar unter anderem 37-fachen Mord sowie „Aufwiegelung zum Aufstand“ und „Spaltung der Einheit und Integrität des Landes“ vor. Die bei der 22. Großen Strafkammer Ankara eingereichte Anklageschrift wurde formell noch nicht angenommen. Das Gericht hat insgesamt fünfzehn Tage Zeit, über die Zulassung der Anklage zu entscheiden.

Über drei Jahre nach dem Prozessauftakt waren am vorletzten Donnerstag in Ankara die Urteile in dem als „Kobanê-Verfahren“ bekannten Schauprozess gegen den ehemaligen HDP-Vorstand und weitere Oppositionelle gesprochen worden. Zwei Dutzend der insgesamt 108 Angeklagten, darunter die früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, die jeweils 42 bzw. 30 Jahre Haft erhielten, wurden wegen Separatismusverdachts und Terrorismusvorwürfen zu drakonischen Freiheitsstrafen verurteilt, weil sie im Oktober 2014 zu Protesten gegen die Unterstützung der türkischen Regierung für die in die westkurdische Stadt Kobanê eingedrungene Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) aufgerufen hatten. Zwölf Personen wurden freigesprochen, im Fall aller übrigen Angeklagten wurde das Verfahren abgetrennt.

Die DEM-Partei, die die Nachfolge der von einem Verbot bedrohten HDP angetreten hat, bezeichnete das Kobanê-Verfahren als „Stellvertreterprozess aus Rache für den Sieg gegen den IS“. Es sei ein „politischer Coup“ und Paradebeispiel dafür, dass die Judikative in der Türkei ihre Funktion verloren hat. Mit der neuen Anklage will die oberste Anklagebehörde in der türkischen Hauptstadt offenbar eine Fortsetzung der Justizfarce spielen. Die knapp 300 Seiten lange Anklageschrift gegen Hüda Kaya und Co., die nicht zu den Beschuldigten im Kobanê-Verfahren zählen, liest sich wie eine schlechte Zusammenfassung der Anklage im ersten Prozess. Sie sollen sich vor Gericht für die Vorfälle bei den Kobanê-Protesten verantworten.

Als der IS im Oktober 2014 mit Unterstützung des türkischen Staates die Stadt Kobanê eingekesselt hatte und ein Massaker an der Bevölkerung drohte, war es in mehr als 30 Städten in der Türkei bzw. in Nordkurdistan zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden sowie der Polizei, der Gendarmerie und IS-nahen Organisationen mit Dutzenden Toten gekommen. Die Zahl dieser Toten, bei denen es sich überwiegend um Sympathisierende der HDP handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet.

38-mal lebenslänglich und 19.680 Jahre Haft gefordert

Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD waren damals außerdem 682 Menschen bei den Protesten verletzt worden. Mindestens 323 Personen wurden zudem verhaftet. Im Verlauf des Aufstands hatte es darüber hinaus zahlreiche Brandanschläge auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen gegeben, die allerdings nach Recherchen der HDP hauptsächlich von Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) verübt worden waren. Wie bereits im ersten Kobanê-Verfahren werden auch in der neuen Anklage die Beschuldigten für alle Vorfälle, einschließlich der Toten, verantwortlich gemacht. Für Hüda Kaya, die seit November im Gefängnis ist, sowie Serpil Kemalbay, Fatma Kurtulan, Garo Paylan und Pero Dündar fordert die Staatsanwaltschaft 38-mal erschwerte lebenslängliche Haft und weitere 19.680 Jahre. Kemalbay, Kurtulan und Dündar sind aus der Türkei geflohen und haben vergangene Woche zusammen mit Dutzenden weiteren Exilpolitiker:innen die Freilassung der im Kobanê-Verfahren Inhaftierten gefordert.