Kobanê-Verfahren: Im Namen der Rache

Das Kobanê-Verfahren von Ankara sei ein Stellvertreterprozess aus Rache für den Sieg gegen den IS. „Wir erkennen das Urteil nicht an. Es ist gegenstandslos und nichtig“, betont die DEM-Spitze.

Feindstrafrecht

„Wir erkennen das Urteil nicht an. Es ist gegenstandslos und nichtig“, sagte der Ko-Vorsitzende der DEM-Partei, Tuncer Bakırhan, am Donnerstag in Ankara. Zuvor war im Gefängniskomplex Sincan eine auch als „Kobanê-Verfahren“ bekannte und im Palast von Recep Tayyip Erdoğan dirigierte Justizfarce zu Ende gegangen. Angeklagt in dem seit drei Jahren laufenden Prozess waren 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und kurdischer Befreiungsbewegung, darunter der gesamte ehemalige Vorstand der inzwischen inaktiven HDP. Sie wurden des Separatismus, Terrorismus und Mordes beschuldigt, weil sie im Oktober 2014 zu Protesten gegen die Unterstützung der türkischen Regierung für die in die westkurdische Stadt Kobanê eingedrungene Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) aufgerufen haben. Im Rahmen dieser Proteste kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstrierenden, der Polizei, der Gendarmerie und IS-nahen Organisationen, die zu Dutzenden Toten führten. Diese Toten, bei denen es sich überwiegend um Sympathisierende der HDP handelte, wurden in der Anklage der damaligen HDP-Führung und der Partei als Ganzes zur Last gelegt.

Die meisten Angeklagten blieben aus Protest dem letzten Verhandlungstag fern. Bei der Verlesung des Urteils verließen auch die Verteidigung, Angehörige und Presseleute unter lautstarkem Protest den Gerichtssaal. Nur Polizisten und Soldaten blieben | Screenshot


Verfahren gegen 72 Angeklagte abgetrennt - auch Tote darunter

Zwei Dutzend der Angeklagten wurden von der türkischen Justiz mit teils drakonischen Freiheitsstrafen belegt. Die seit November 2016 inhaftierten früheren HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ wurden zu Rekordstrafen von insgesamt 42 beziehungsweise über 30 Jahren Haft verurteilt. Der marxistische Ökonom Alp Altınörs und die Aktivistin Zeynep Karaman von der kurdischen Frauenbewegung erhielten 22,5 Jahre Haft und der 81-jährige Ko-Oberbürgermeister von Mêrdîn, Ahmet Türk, bekam zehn Jahre. Sebahat Tuncel, Ayla Akat Ata, Meryem Adıbelli und Ayşe Yağcı von der kurdischen Frauenbewegung und die ehemalige Oberbürgermeisterin von Amed, Gültan Kışanak, wurden zwar ebenfalls verurteilt, kamen jedoch unter Anrechnung ihrer langen Untersuchungshaft frei.

Freisprüche gab es für zwölf Angeklagte, darunter die in Haft schwer an Demenz erkrankte Ex-Abgeordnete und Öcalan-Verteidigerin Aysel Tuğluk und Gülser Yıldırım sowie Altan Tan und Ayhan Bilgen – letztere beiden hatten die HDP allerdings vor Jahren verlassen. Vom Mordvorwurf wurden alle 36 Angeklagten freigesprochen. Im Fall der übrigen Beschuldgiten wurde das Verfahren abgetrennt; selbst bei jenen, die bereits tot sind. Ismail Özden (Zekî Şengalî) etwa wurde 2018 im ezidischen Siedlungsgebiet Şengal im Nordirak bei einem gezielten Angriff der türkischen Luftwaffe getötet und Mazlum Tekdağ starb 2019 bei einem Luftangriff auf die Medya-Verteidigungsgebiete.

In vielen Städten in der Türkei wurde gegen die Haftstrafen protestiert, wie hier in Istanbul-Kadıköy © DEM


Bakırhan: Ein juristisches Massaker

Tuncer Bakırhan prangerte das Urteil als „schwarzen Fleck in der Geschichte der türkischen Justiz“ an. „In einer Zeit, in der JITEM-Mörder, die tausende Kurden verschwinden ließen, indem sie sie in Brunnenschächten und Säuregruben versenkten, mit Straffreiheit belohnt werden, fand mit dem Kobanê-Prozess der Versuch statt, die HDP, die kurdische Politik, Revolutionäre und Demokraten von der politischen Bühne zu tilgen. Wir alle waren heute Zeugen eines juristischen Massakers. Im Gerichtssaal von Sincan wurde der Geist der sogenannten Unabhängigkeitsgerichte und der Prozesse der Militärjunta zu neuem Leben erweckt. Doch im Herzen der Kurden und Türken, der Werktätigen, der Jugend und der Frauen wurden alle Angeklagten freigesprochen“, gab Bakırhan an.

Abgeordnete der DEM-Fraktion entrollten während der Parlamentssitzung am Donnerstag Porträts der Angeklagten im Kobanê-Verfahren und klopften an ihre Tische, um gegen das Urteil zu protestieren. In 14 Provinzen verhängten die Gouverneure der Regierung unterdessen ein mehrtägiges Demonstrationsverbot


Hatimoğulları: Entscheidung wurde im Namen der Rache gefällt

Tülay Hatimoğulları, ebenfalls Ko-Vorsitzende der DEM-Partei, sprach noch schärfere Worte. So etwas wie eine Judikative sei in der Türkei faktisch nicht mehr existent und die Ankläger im Kobanê-Verfahren würden in den Prunkpalästen des Regimes sowie in der Zentrale der rechtsextremistischen MHP sitzen. „Das war ein politisches Urteil und kein juristisches“, sagte Hatimoğulları. „Die Entscheidung wurde im Namen der Rache gefällt. Rache für den Sieg gegen den IS in Kobanê. Man hat gezeigt, auf wessen Seite man steht: Auf der Seite einer Terrorgruppe; Feind der Völker, der Frauen und der Menschheit, die großes Unheil über den Nahen Osten brachte. Wir hatten gesagt, entweder fällt ein Urteil zugunsten der Völker und Demokratie oder zugunsten des IS und des Faschismus. Das Gericht hat im Sinne der IS-Terroristen und Faschisten entschieden. Eines sei aber gewiss: Unseren Widerstand gegen den Faschismus wird niemand brechen können.“

Der Parteirat der DEM und die Leitungsorgane der Mitgliedsparteien des HDK (Demokratischer Kongress der Völker) zogen sich im Anschluss in die Zentrale in Ankara zurück, um über den Prozess und eine neue Roadmap zu beraten.