In dem seit April 2021 andauernden Kobanê-Verfahren in Ankara sind insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung angeklagt, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Unter ihnen sind die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ und der gesamte damalige Parteivorstand. 18 der Angeklagten befinden sich momentan in Untersuchungshaft.
Einer der inzwischen wieder freigelassenen Angeklagten ist Sırrı Süreyya Önder. Der Filmemacher und Politiker, der während der Gespräche zwischen dem türkischen Staat und Abdullah Öcalan in den Jahren 2013 bis 2015 Sprecher der Imrali-Delegation war, wurde im Mai auf der Liste der Grünen Linkspartei (YSP) in Istanbul zum Abgeordneten in die Nationalversammlung der Türkei gewählt. Am Freitag äußerte sich Önder in der Verhandlung vor dem 22. Hohen Strafgericht von Ankara, die im Gefängniskomplex Sincan stattfindet.
Schauprozess im rechtsfreien Raum
Önder erklärte, dass im Kobanê-Prozess keine rechtswidrige Situation vorliege, das Verfahren werde vielmehr im rechtsfreien Raum geführt. „Ich bin mit den Stimmen des Volkes ins Parlament gewählt worden, und meine Aufgaben, meine Stellung und mein Status sind durch die Verfassung und die Geschäftsordnung festgelegt. Meinen Antrag auf Aufhebung des Ausreiseverbots haben Sie jedes Mal abgelehnt“, sagte Önder. Zuletzt sei ihm in Aussicht gestellt worden, dass Auslandsreisen genehmigt werden können, sofern sie mit seiner parlamentarischen Tätigkeit zusammenhängen.
Önder war bereits zwischen 2011 und 2018 Parlamentsabgeordneter der BDP bzw. HDP. Vor Gericht wies er darauf hin, dass er auch Wähler:innen in Berlin und Paris habe und entsprechend auch dort politische Arbeit mache. Angeklagt im Kobanê-Prozess sei nicht er persönlich, Gegenstand des Verfahrens sei der damalige Verhandlungsprozess für eine Lösung der kurdischen Frage, der 2015 einseitig vom Staat beendet wurde.
Sırrı Süreyya Önder, Abdullah Öcalan, Pervin Buldan und Idris Baluken auf Imrali
„Nicht wir stehen vor Gericht, sondern der Lösungsprozess. Die gesamte Tätigkeit ist kriminalisiert worden“, so Sırrı Süreyya Önder. Als Sprecher der Imrali-Delegation reiste Önder zwischen 2013 und 2015 zahlreiche Male auf die Gefängnisinsel im Marmarameer und zur PKK-Führung ins Qendîl-Gebirge und war im ständigen Kontakt mit der türkischen Regierung und dem Geheimdienst MIT. „Ich führte Gespräche mit dem Präsidenten dieses Landes, dem Ministerpräsidenten und mit Qendîl. Der Staat bat mich, eine Rolle und Verantwortung zu übernehmen. Dann änderte sich das Paradigma und mein Platz wurde zur Anklagebank“, erklärte Önder, dem der Staat damals aufgrund seiner exponierten Position zeitweise bis zu sieben Personenschützer zur Seite stellte.
„Wir befinden uns hier in Absurdistan“
Hinsichtlich der Tatvorwürfe wies Önder darauf hin, dass die Verbrechen des IS in dem Verfahren keine Erwähnung finden und durch den Widerstand in Kobanê 2014 auch die Türkei vor der islamistischen Terrororganisation geschützt wurde: „Wenn es keinen Widerstand in Kobanê gegeben hätte, wäre der IS in Adana gewesen. Ich habe die Panik der staatlichen Führung damals gesehen und sogar mit dem damaligen Unterstaatssekretär für öffentliche Sicherheit, Muhammed Dervişoğlu, den Bedarf für Kobanê gedeckt. Wir befinden uns hier in Absurdistan. Kein Türke, der herumläuft und sagt, es sei ein Glück, Türke zu sein, ist glücklich.“
Titeloto: Sırrı Süreyya Önder bei einem Wahlkampfauftritt in Istanbul, Mai 2023