In Ankara wird der im April 2021 eröffnete „Kobanê-Prozess“ fortgesetzt. In dem Verfahren werden 108 Angeklagte, darunter der ehemalige Vorstand der Demokratischen Partei der Völker (HDP), im Zusammenhang mit den Protesten vom 6. bis 8. Oktober 2014 während des IS-Angriffs auf Kobanê terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt. 21 Angeklagte befinden sich im Gefängnis, so auch der ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş, der sich heute ausführlich im historischen Kontext zu der politischen Situation in der Türkei äußerte:
„Es gibt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über mich in Ihrer Akte. In einem Urteil heißt es, dass die Angeklagten aus politischen Gründen inhaftiert sind. Eine Diskussion über die politischen Motive des Falles, die diese ignoriert, würde daher bedeuten, das Gesetz zu ignorieren.
Warum sehen wir diesen Fall als einen wichtigen politischen Fall in der Geschichte der Türkei an? Der Konflikt zwischen den beiden verschiedenen Flügeln der Unionisten während des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches endete nicht mit der Gründung der Republik. Die Tradition, die sich in die Demokratische Partei und die CHP aufspaltete, beschloss, den säkularen türkischen republikanischen Staat aufzubauen, indem sie für das Überleben des Staates alle Identitäten verleugnete. Wenn wir von damals auf heute zurückblicken, verstehen wir besser, warum dieser Fall ein Fall von politischer Vernichtung ist.
Türkentums als Kitt der Republik
Als das Osmanische Reich zerfiel, wurde aufgrund der Paranoia, dass nationalistische Bewegungen das Osmanische Reich spalten würden, beschlossen, dass die Definition der Nation in Anatolien auf dem Türkentum basieren sollte. Die einen plädieren für ein dem Islam gleichwertiges Türkentum, die anderen für den heutigen Namen des großen Turan. Letztendlich hat sich in Anatolien eine ethnische Definition des Türkentums als Kitt herauskristallisiert. Die Diskussionen im Ausschuss für Union und Fortschritt (İttihat Terakki) führten zu einem Konsens in dieser Frage: Die Nation muss eine einzige Sprache haben. Jeder, der der Türkischen Republik angehört, ist ein Türke. Dieses Bewusstsein und diese Geschichte müssen den Menschen eingeimpft werden. Jeder, der davon abweicht, wird ins Visier des Regimes geraten. Auch wenn es untereinander Unterschiede gibt, ist dies der Punkt, an dem sie einen Konsens erreichen.
Einigung statt Vereinheitlichung
Alle, die nicht mit der offiziellen Ideologie konform gehen, gelten als Terroristen, seien es Kunstschaffende oder Politikerinnen und Politiker. Ich gehe davon aus, dass das Militär, die Polizei und die anderen im Saal anwesenden Beamten an diese offizielle Ideologie glauben. Sie wollen die Integrität des Staates schützen und bezeichnen sich selbst als staatsfreundlich. Wir fahren mit denselben Codes von 1925 bis 2022 fort, aber das ist falsch. Die Fehler, die in jenen Jahren gemacht wurden, können korrigiert werden. Neue Definitionen können geschaffen werden, ohne den Staat zu zersetzen und die Integrität der Nation zu zerstören. Anatolien und Mesopotamien sind wie Ägypten oder Istanbul ein Zentrum der Zivilisation. Anatolien ist eine Kombination aus Völkern und Zivilisationen mit vielen Kulturen. Es ist nicht möglich, sie zu zerstören oder zu monologisieren. Das wäre ein Verrat und außerdem unnötig. Gemeinsame nationale Werte können geschaffen werden, ohne sich auf eine Identität zu einigen. Die Flagge, die die Unabhängigkeit des Staates und unserer multikulturellen Nation symbolisiert, ist eines davon. Das Recht ist eine der Garantien für die nationale Einheit. Dazu gehören auch die Sprachen. Es ist unser aller Heimatland. Als Kurde habe ich auch Rechte in Ankara und Trabzon. Der Weg zur Verhinderung einer Spaltung ist nicht die Vereinheitlichung, sondern eine Einigung. Einheit ist Pluralität. Eine Sprache, eine Nation ist Hitlers Parole.
Mit Abdullah Öcalan ist eine Lösung möglich
Die Gründungsphilosophie der Republik bediente sich eines pluralistischen Diskurses, um Kurden, Aleviten und Tscherkessen in den Krieg einzubeziehen. Auch anatolische Völker trugen zu diesem Krieg bei. Die südliche Region Kurdistan war innerhalb der Grenzen des Misak-ı Milli im Gespräch, doch in Lausanne und in der Verfassung von 1924 wurde dies verworfen und die offizielle Ideologie der Türkisierung durchgesetzt.
Im Jahr 2022 legt uns der Staatsanwalt eine Stellungnahme vor. Die Grundlage der Stellungnahme sind die kurdische Frage, die kurdische Sprache und Fragen im Zusammenhang mit dem Kurdentum. Alle sollten ihre Lektion lernen. Wir müssen dem Leid ein Ende setzen, das wir uns seit hundert Jahren gegenseitig zugefügt haben. Ende 2012 und Anfang 2013 gab es die Forderung nach einer unblutigen Lösung mit Freiheiten. Der Lösungsprozess war eine Aufforderung, die Gründungsphilosophie der Republik zu implementieren. Wir wollten, dass der türkische Staat die kurdische Bevölkerung ehrlich und gleich behandelt, damit die Kurden den Staat nicht mit Steinen bewerfen. Es gibt auch die Dimension des Imperialismus. Dem Imperialismus ist es egal, ob der Kurde den Türken oder der Türke den Kurden erschießt, ihm geht es um das Wachstum seiner Profite. Sie oder ich werden im Falle einer Lösung dieses Problems nicht zu Schaden kommen. Der Imperialismus wird leiden. Daher ist diese Frage auch eine Klassenfrage. Um sie zu lösen, muss jemand mutig handeln. Das kann mit feigen und schlüpfrigen Politikern nicht funktionieren. Wir brauchen aufopferungsvolle Politikerinnen und Politiker. Man muss riskieren, als Terrorist abgestempelt zu werden. Abdullah Öcalan ist befugt, eine Lösung zu finden. Die Republik Türkei sollte mit Öcalan im Austausch für Demokratie verhandeln. Sie muss der PKK Freiheit und Demokratie versprechen, sonst nichts.“