Seit April 2021 läuft in Ankara das sogenannte „Kobanê-Verfahren“ gegen 108 Angeklagte, darunter der ehemalige Vorstand der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Die Angeklagten werden im Zusammenhang mit den Protesten vom 6. bis 8. Oktober 2014 während des IS-Angriffs auf Kobanê terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt. Der letzte Verhandlungstag in dem politischen Schauprozess fand am Freitag im Gefängniskomplex Sincan statt.
Die angeklagte HDP-Politikerin Dilek Yağlı, ehemaliges Mitglied des Parteivorstands, gab in der Verhandlung eine ausführliche Erklärung ab, in der sie die Generalstaatsanwaltschaft der Ignoranz hinsichtlich der Gräueltaten der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) beschuldigte. Zu Beginn ihrer Rede erklärte Yağlı, dass keine Beweise für Straftaten vorliegen: „Die Anklageschrift ist eine Fiktion, als hätte alles am 6. Oktober 2014 begonnen. Weder die IS-Angriffe noch unsere Aufrufe haben am 6. Oktober begonnen. Wir fordern das Gericht auf, sich die grundlegenden Rechtsprinzipien zu eigen zu machen. Uns liegt eine Anklageschrift vor, die die damalige Zeit und die Gräueltaten des IS ignoriert."
IS-Anschläge müssen als Beweismittel aufgenommen werden
Im weiteren Verlauf ihrer Verteidigungsrede ging die HDP-Politikerin auf den IS-Überfall auf die ezidische Bevölkerung von Şengal am 3. August 2014 ein. Der damalige Genozid und Femizid habe große Solidarität ausgelöst: „Die Ezidinnen und Eziden haben sich noch immer nicht von den traumatischen Folgen der Massaker erholt. Jeder normale Mensch auf der Welt würde sich gegen eine solche Gräueltat aussprechen.“ In der Zeit der IS-Massaker hätten diverse Proteste stattgefunden und der islamistische Feldzug sei von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen dokumentiert worden. Diese Berichte müssten als Beweismittel in die Prozessakte aufgenommen werden, ebenso die IS-Anschläge gegen die HDP und die demokratische Opposition in der Türkei.
Yağlı erinnerte an die Angriffe staatlicher Kräfte auf die Proteste am 7. und 8. Oktober 2014 und die Worte des damaligen türkischen Innenministers Efkan Ala: ,Es gibt Kräfte auf den Straßen, die wir nicht kontrollieren können'. „Warum haben die Polizeieinheiten, die während der Massaker vor den Krankenwagen eintrafen und Gas auf die Verwundeten sprühten, während der Proteste nicht eingegriffen?", fragte Yağlı.
Die HDP ist eine Dachorganisation
Dilek Yağlı erklärte weiter, dass sie in ihrer Funktion als Vorstandsmitglied der HDP an allen Sitzungen teilgenommen habe: „Wir sind Menschen, die in der HDP Politik machen, weil wir eine interne Parteidemokratie haben. In unseren Sitzungen sprechen wir nicht nach Anweisung externer Mächte. Die HDP ist eine Dachorganisation, die viele verschiedene Bereiche umfasst. Das macht die Partei so wertvoll und deshalb organisieren sich viele verschiedene Menschen, von antikapitalistischen Muslimen bis hin zu Feministinnen, in der HDP.“
Der Hauptgrund für ihre eigene Mitarbeit in der HDP sei die Frauenpolitik, so Yağlı weiter: „Der HDP-Frauenrat ist eine einzigartige und autonome Frauenorganisation, die gegründet wurde, um auf der Grundlage demokratischer Politik den Kampf gegen die Erscheinungsformen des von Männern dominierten Systems zu führen. Ziel ist es, Frauen aus allen Gesellschaftsschichten anzusprechen, damit sie sich an der Politik beteiligen und ihr Leben selbst bestimmen können. Die HDP kämpft gegen diejenigen, die Frauen daran hindern, sich an der Politik zu beteiligen. Sie kämpft für die Organisation zum Schutz der Errungenschaften des Frauenbefreiungskampfes. Sie setzt sich für die volle Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen ein, bis die Gleichstellung der Geschlechter erreicht ist. Sie betreibt eine Politik und einen aktiven Kampf gegen alle Formen der Gewalt gegen Frauen. Sie führt Selbstverteidigungsmaßnahmen durch, damit Frauen ihr Leben schützen können. Sie kämpft gegen eine militaristische Politik. Sie kämpft gegen die Politik des Völkermords und setzt sich für die Einheit der Frauen gegen den Faschismus ein."
Die Angeklagten könnten nicht dafür verurteilt werden, dass sie einen Aufruf gegen die Gräueltaten des IS gemacht hätten: „Als normale Bürgerin erwarte ich von allen Institutionen, dass sie diese Forderung stellen."
Verteidigung beantragt Freilassung
Anschließend ergriff Dilek Yağlıs Verteidiger Hakan Bozyurt das Wort und beantragte die Aufhebung des Haftbefehls, weil die Bedingungen für die Fortdauer der Inhaftierung seiner Mandantin nicht erfüllt seien. Bozyurt sagte: „In der Akte gibt es keine Beweise gegen meine Mandantin. In der 3530-seitigen Anklageschrift befindet sich nur ein 13-seitiger Abschnitt über sie. Die einzige konkrete Anschuldigung ist ihre damalige Mitgliedschaft im HDP-Vorstand.“
Der Prozess wird am Montag, 5. September, fortgesetzt.