Devriş Çimen: „Die Wurzel der Probleme ist die kurdische Frage“

Der HDP-Europavertreter Devriş Çimen hat auf Einladung von Laura Boldrini, der Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses im italienischen Parlament, über das derzeitige politische Klima in der Türkei und das drohende Verbot seiner Partei gesprochen.

Auf Einladung von Laura Boldrini, der Vorsitzenden des ständigen Ausschusses für Menschenrechte des italienischen Parlaments, fand eine Sitzung statt, an der auch die Ausschussmitglieder teilnahmen. Der HDP-Europavertreter Devriş Çimen nahm online an der Sitzung teil und hielt einen Vortrag über das Verbotsverfahren gegen die HDP, den sogenannten Kobanê-Prozess und die Auswirkungen des derzeitigen politischen Klimas in der Türkei auf die Menschenrechte.

„Die Wurzel der Probleme ist die kurdische Frage“

Laura Boldrini hielt die Eröffnungsrede und sprach über das harte Vorgehen gegen die HDP in der Türkei. Sie betonte, dass von der Regierung ernannte Treuhänder die HDP-Bürgermeister:innen ersetzt haben, um die lokalen Verwaltungen der HDP zu schwächen.
Devriş Çimen führte in seinem Vortrag aus: „Die Türkei ist seit ihrer Gründung nicht in Frieden mit ihrer inneren Dynamik, ihren Minderheiten und ihren Völkern gewesen. Die Angst hat das Land immer beherrscht. Türkische Lehrer erklären ihren Schülerinnen und Schülern die Lage des Landes folgendermaßen: ,Wir leben in einem Gebiet, das auf drei Seiten von Meer und Feinden umgeben ist.' Die heutigen Politiker stehen unter dem Einfluss dieses Diskurses. Daher gibt es ein politisches Verständnis, das Andersdenkende als Feinde betrachtet."

Die Wurzel aller Probleme in der Türkei sei die kurdische Frage, so der HDP-Vertreter: „Da die kurdische Frage mit Gewalt und antidemokratischen Mitteln unterdrückt wurde, ist sie eng mit der Frage der Demokratie verwoben. Weil sie von der Politik manipuliert wird, gibt die türkische Bevölkerung ihre demokratischen Rechte auf, damit die Kurden nicht die gleichen Rechte haben. Sie geben einfach ihre Zustimmung zu dem, was geschieht. Die HDP konzentriert sich seit ihrer Gründung auf die Demokratisierung der Türkei.“

Flüchtlingsabkommen“ der EU mit Erdogan

Çimen erklärte weiter: „Die regierende AKP hat internationale Unterstützung erhalten. Jetzt hat die Partei ein autoritäres Regime in der Türkei errichtet, in dem Ungerechtigkeit, Korruption, Armut, Unterdrückung und Gewalt in allen Bereichen grassieren. Der italienische Ministerpräsident Draghi nannte Tayyip Erdogan einmal einen Diktator und sagte: ,Aber wir müssen auch bereit sein, zum Wohle unseres Landes zu kooperieren.' Diese Ansicht vertritt nicht nur der italienische Ministerpräsident, sondern auch die EU. Die Beziehungen zu europäischen Organisationen sollten natürlich gefördert werden. Doch sollten die Beziehungen nicht unter Missachtung der Menschenrechte und der Demokratie aufrechterhalten werden. Das sogenannte Flüchtlingsabkommen der EU mit Erdogan im Jahr 2016 hat zu solchen Konsequenzen geführt.“

Abbruch der Verhandlungen mit Öcalan

Zwischen 2013 und 2015 fand ein Verhandlungsprozess zwischen der Erdoğan-Regierung und dem PKK-Gründer Abdullah Öcalan statt. Çimen merkte dazu an: „Es gab große Hoffnungen und Erwartungen in Bezug auf eine Demokratisierung der Türkei. Die Diskussionen über Freiheiten, Rechte und Demokratie wurden im Lande frei geführt. Im April 2015 wurden diese Verhandlungsgespräche abgebrochen. Der Friedensprozess kam zu einem Ende. Im Juni 2015 wurden allgemeine Wahlen abgehalten. Seitdem sind Krieg, Gewalt, Unterdrückung und Verhaftungen Teil des täglichen Lebens geworden. Kurdisch besiedelte Städte wie Sur, Cizre und Nusaybin innerhalb der Grenzen der Türkei wurden unter dem Vorwand der Bekämpfung der PKK zerstört. Nordsyrische Städte wie Afrin, Serekaniye und Tall Abyad, die außerhalb der Grenzen der Türkei liegen, wurden angegriffen und besetzt. Die Türkei hat 40 Militärstützpunkte im Nordirak eingerichtet und führt dort einen Krieg."

Systematischer Druck

Çimen führte weiter aus, dass HDP-Mitglieder für ihr Engagement in der alternativen Politik bestraft werden und seine Partei systematischem Druck ausgesetzt ist: „In einem Bericht über die Gefängnisse, den der Europarat im April 2021 veröffentlichte, wurde die Türkei als das Land mit der höchsten Inhaftierungsrate bezeichnet. Die Zahl der Gefangenen und Verurteilten in der Türkei beträgt fast 300.000. Aus dem Bericht geht hervor, dass es in den Mitgliedsländern des Europarats 30.000 Gefangene und Verurteilte wegen terroristischer Anschuldigungen gibt, von denen sich etwa 29.000 in den türkischen Gefängnissen befinden. Die Anti-Terror-Gesetze werden so willkürlich angewandt, dass alle Andersdenkende Gefahr laufen, als Terrorist eingestuft zu werden, da dies vom Erdogan-Regime und nicht von der unabhängigen Justiz entschieden wird. Seit 2015 wurden mehr als 12.000 HDP-Mitglieder verhaftet. Obwohl einige von ihnen freigelassen wurden, befinden sich derzeit mehr als 4000 HDP-Mitglieder in Gefängnissen. HDP-Mitglieder werden nicht bestraft, weil sie gegen Erdoğan sind, sondern weil sie versuchen, eine alternative Politik zu entwickeln."

Die Isolation von Abdullah Öcalan

„Abdullah Öcalan befindet sich in verschärfter Isolation, seit knapp einem Jahr gibt es kein Lebenszeichen mehr. Er hat keinen Kontakt zu seiner Familie und seinen Anwälten. Trotz der Berichte des CPT und der Aufforderungen des Europarats hat es keine Fortschritte in dieser Frage gegeben. Diese Form der Isolation wird inzwischen in vielen Gefängnissen der Türkei praktiziert. Die Gefängnisse haben sich in Orte der Isolation und des Todes verwandelt. Die Zahl der Todesfälle in Gefängnissen ist in letzter Zeit stark angestiegen. So ist beispielsweise die HDP-Politikerin Aysel Tuğluk schwer krank. Sie darf außerhalb des Gefängnisses nicht behandelt werden. Indem das Erdoğan-Regime Aysel Tuğluk im Gefängnis hält, versucht es symbolisch, Rache zu nehmen und die Menschen im Land einzuschüchtern. Nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD gibt es in den türkischen Gefängnissen mindestens 1600 kranke Gefangene, von denen mindestens 600 schwer krank sind.

Die Türkei hält sich nicht an die Beschlüsse und Empfehlungen zahlreicher internationaler Institutionen wie des Europarats, des Europäischen Parlaments, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter (CPT) und der Vereinten Nationen. Daher sollten die internationalen Institutionen Sanktionen ankündigen. Die HDP, die drittgrößte Partei im türkischen Parlament und die zweitgrößte Oppositionspartei, möchte in diesen Fragen eine konstruktive Rolle spielen. Die Regierung hat jedoch ein Schließungsverfahren gegen die Partei eingeleitet. Die Regierungen, insbesondere die italienische Regierung, müssen ihre Stimme gegen dieses Verfahren erheben", so der HDP-Europavertreter.

Im Dienst der Erdogan-Regierung

Çimen wies abschließend darauf hin, dass die Medien, die Justiz, das Bildungswesen, die Wirtschaft, die Sicherheit und das Parlament in der Türkei im Dienste der Erdogan-Regierung stünden und die HDP darum kämpfe, die aktuelle politische Krise zu überwinden. Daher sollten alle Parteien eine ermutigende Rolle bei der Demokratisierung der Türkei spielen und den Dialog und friedliche Methoden zur Lösung der kurdischen Frage fördern.

Laura Boldrini erklärte nach dem Vortrag des HDP-Europavertreters, dass in der Türkei die Menschenrechte verletzt werden und die Situation in den Gefängnissen überwacht werden müsse. Sie fügte hinzu, dass die Öffentlichkeit durch die von der Regierung kontrollierten Medien in der Türkei manipuliert werde. Die italienische Politikerin erklärte, dass sie sich mit der HDP solidarisch fühle und zu den Bemühungen um eine Demokratisierung der Türkei beitragen werde. Boldrini schloss damit, dass sie den anhaltenden Widerstand und die Entschlossenheit der HDP trotz all des Drucks, dem sie ausgesetzt ist, zu schätzen weiß.