„Kobanê-Prozess“: Zeugenanhörung in Abwesenheit der Angeklagten

Im Kobanê-Verfahren in Ankara sind anonyme Zeugen der Anklage in Abwesenheit der Angeklagten und ihrer Verteidiger:innen angehört worden, vermeintlich aus Sicherheitsgründen. Der politische Schauprozess soll offenbar so schnell wie möglich beendet werden.

Seit April 2021 läuft in Ankara das sogenannte „Kobanê-Verfahren“ gegen 108 Angeklagte, darunter der ehemalige Vorstand der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Die Angeklagten werden im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt. Der letzte Verhandlungstag in dem politischen Schauprozess fand am Donnerstag im Gefängniskomplex Sincan statt und dauerte bis in den späten Abend. 21 der Angeklagten befinden sich in Haft.

Am Freitagmorgen veröffentlichte das Gericht einen aus 107 Seiten bestehenden Zwischenbeschluss zur Aufrechterhaltung des Haftstatus der 21 inhaftierten Angeklagten. Zur Begründung wurden erneut die früheren politischen Aktivitäten der Angeklagten und vermeintliche Zeugenaussagen herangezogen. In den vergangenen Verhandlungstagen haben mehrere Zeug:innen ihre Aussagen zurückgezogen. Die anonymen Zeugen mit den Decknamen Mahir, Ulaş und Seher wurden vom Gericht am Wochenende in einer nicht öffentlichen Sitzung in Abwesenheit der Angeklagten und ihrer Verteidiger:innen angehört. Der Widerspruch der Verteidigung gegen dieses Vorgehen wurde vom Gericht mit Verweis auf den Zeugenschutz zurückgewiesen. Das Gericht argumentierte, der Widerspruch gehe zurück auf eine Intervention der Organisation, in der die Angeklagten mutmaßlich Mitglieder seien.

Auch der Antrag der Verteidigung auf Aussetzung des Verfahrens innerhalb der am 20. Juli beginnenden Justizferien in der Türkei wurde vom Gericht abgelehnt. Der Prozess wird am 25. Juli fortgesetzt.

Hintergrund: Angeklagt wegen Kobanê-Solidarität

Im Kobanê-Verfahren sind insgesamt 108 Persönlichkeiten aus Politik, Zivilgesellschaft und der kurdischen Befreiungsbewegung angeklagt, die im Zusammenhang mit den Protesten während des IS-Angriffs auf Kobanê im Oktober 2014 terroristischer Straftaten und des Mordes in dutzenden Fällen beschuldigt werden. Allein für Selahattin Demirtaş fordert die Generalstaatsanwaltschaft Ankara bis zu 15.000 utopische Jahre Haft.

Auslöser des Kobanê-Verfahrens ist ein Beitrag des HDP-Exekutivrats im Kurznachrichtendienst Twitter, der während einer Dringlichkeitssitzung verfasst worden war und neben Solidarität mit der von der Terrormiliz „Islamischer Staat” (IS) eingekesselten Stadt in Westkurdistan auch zu einem unbefristeten Protest gegen die türkische Regierung aufrief, da diese ihre Unterstützung für den IS nicht beendete: „Dringender Aufruf an unsere Völker […]! In Kobanê ist die Lage äußerst kritisch. Wir rufen unsere Völker dazu auf, auf die Straße zu gehen und diejenigen zu unterstützen, die bereits auf der Straße sind, um gegen die Angriffe des IS und gegen das Embargo der AKP-Regierung zu protestieren.”

Dutzende Tote, hunderte Verletzte

Im Zuge dessen kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften sowie paramilitärischen Verbänden wie Dorfschützern und Anhängern der radikalislamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah (Hizbullah) und den Demonstrierenden. Die Zahl der dabei getöteten Menschen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmende des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 (IHD) und 53. Die Regierung spricht lediglich von 37 Toten. Viele von ihnen wurden durch Schüsse der Sicherheitskräfte getötet. Laut einem Bericht des Menschenrechtsvereins IHD wurden 682 Menschen bei den Protesten verletzt. Mindestens 323 Personen wurden verhaftet. Im Verlauf des Aufstands kam es zudem zu Brandanschlägen auf Geschäfte sowie öffentliche Einrichtungen. Die Regierung macht die HDP für die Vorfälle verantwortlich.

EGMR wertet Aufruf als politische Rede

Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara legt den Twitter-Beitrag der HDP-Zentrale als Aufruf zu Gewalt aus. Laut Auffassung der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) liegen für diese Annahme aber keine Beweise vor. Vergangenen Dezember stellte das Straßburger Gericht im Fall Selahattin Demirtaş vs. Türkei fest, dass sich der Eintrag „innerhalb der Grenzen der politischen Rede” bewegte. Insofern könne der Tweet nicht als Aufruf zur Gewalt ausgelegt werden, urteilte die Kammer und forderte die sofortige Freilassung des ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP. Die Türkei ignoriert das Urteil.