Die Repression gegen die Demokratische Partei der Völker (HDP) in der Türkei dauert unvermindert an. Neben einem Verbotsverfahren läuft seit einem Jahr ein Massenprozess gegen über hundert Angeklagte, darunter der ehemalige Parteivorstand. Die HDP-Sprecher:innen für auswärtige Angelegenheiten, Hişyar Özsoy und Feleknas Uca, weisen auf die fortgesetzte Verhaftungswelle im „Kobanê-Verfahren“ hin und erklären:
Während das Kobanê-Verfahren gegen die HDP mit seinen völlig unrechtmäßigen Praktiken weitergeht, wurde eine weitere Verhaftungswelle gegen HDP-Politiker:innen im Zusammenhang mit diesem Verfahren durchgeführt. Am 12. April erließ die Generalstaatsanwaltschaft in Ankara Haftbefehle gegen 91 Personen, darunter des Parteivorstands, Bürgermeister:innen, städtische Angestellte, ehemalige Parteimitglieder und Verwaltungsangestellte. Mindestens 46 Personen wurden in vielen Städten, darunter Mersin, Adana, Istanbul, Diyarbakir und Urfa, festgenommen. Den Festgenommenen wurde vorgeworfen, „an der finanziellen Organisation der Vorfälle in Kobanê beteiligt gewesen zu sein" und „PKK-Mitglieder, die bei den Vorfällen getötet oder verletzt wurden, finanziell unterstützt zu haben". Einige von ihnen wurden auch wegen „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" angeklagt. Diese Verhaftungen stehen im Zusammenhang mit den Protesten, die Anfang Oktober 2014 in der Türkei stattfanden, als die Stadt Kobanê in Nordsyrien vom IS belagert und angegriffen wurde. Acht Jahre nach den angeblichen Verbrechen! Der ehemalige Ko-Bürgermeister der Gemeinde Mersin-Akdeniz, Fazıl Türk, der ehemalige HDP-Schatzmeister Zeki Çelik, Mustafa Bilgiç aus dem Provinzvorstand der HDP in Adana und Şahin Eroğlu aus dem HDP-Bezirksverband von Kayapınar sind unter den Inhaftierten.
Am 20. April 2022 wurden im Rahmen der von der Generalstaatsanwaltschaft Diyarbakır eingeleiteten Ermittlungen in sechs Provinzen Haftbefehle gegen 44 weitere Personen erlassen. Den Inhaftierten wird vorgeworfen, finanzielle Mittel an die PKK transferiert zu haben. Unter den Verhafteten befinden sich Necati Pirinççioğlu, ehemaliger Ko-Bürgermeister von Kayapinar (Diyarbakir), sowie die ehemaligen Ko-Bürgermeister von Ergani (Diyarbakir), Ramazan Kartalmış und Mervan Yıldız.
Politischer Schauprozess auf Anweisung der Regierung
Das Kobanê-Verfahren, das politisch motiviert ist und auf Anweisung der Regierung eingeleitet wurde, ist in Ankara bereits im Gange. Dutzende von HDP-Funktionären, darunter unsere ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, ehemalige Abgeordnete, Bürgermeister:innen und Mitglieder des Zentralvorstands, sind wegen „versuchten Umsturzes der Regierung und Mordes an Menschen, die bei den Vorfällen in Kobanê getötet wurden", zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Fall basiert auf Anschuldigungen gegen unsere Politiker:innen wegen ihrer Unterstützung der Kobanê-Proteste, die am 6. und 8. Oktober 2014 stattfanden. Dabei handelte es sich um Proteste gegen die Belagerung der Stadt Kobanê und gegen die Untätigkeit der türkischen Regierung angesichts eines drohenden Massakers des IS. Während der Proteste wurden mindestens 43 Menschen getötet. Bei der überwältigenden Mehrheit dieser Menschen handelte es sich um Mitglieder oder Sympathisanten der HDP; sie wurden durch Schusswaffen der türkischen Polizei getötet. Präsident Erdoğan hat unsere verhafteten Ko-Vorsitzenden und die HDP der Anstiftung zur Gewalt beschuldigt. Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat diese Anschuldigungen gegen die HDP in der Rechtssache „Demirtaş gegen die Türkei" bereits geprüft und ist zu dem Schluss gekommen, dass die HDP keine Rolle bei der Gewalt während der Proteste gespielt hat und alle Anschuldigungen gegen die HDP-Führung fallen gelassen werden sollten. Darüber hinaus haben HDP-Abgeordnete bisher mehr als zehn parlamentarische Vorschläge zur Einrichtung einer parteiübergreifenden parlamentarischen Kommission vorgelegt, die die Proteste untersuchen, die Wahrheit aufdecken und dazu beitragen soll, die Provokateure und Anstifter der Gewalt zu ermitteln. Aber alle unsere Vorschläge wurden von der regierenden AKP/MHP-Koalition abgelehnt.
Gerichtspräsident wegen organisierter Kriminalität festgenommen
Das laufende Verfahren in Kobanê ist eine juristische Farce. Vor kurzem wurde der ehemalige Präsident des Gerichts, Bahtiyar Çolak, wegen organisierter Kriminalität und Korruption festgenommen. Später wurde er unter Hausarrest gestellt und vom Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) von seinem Amt suspendiert. Am 28. März wies das Gericht die Forderung der Verteidigung der Angeklagten zurück, das Verfahren wegen der Ermittlungen gegen den ehemaligen obersten Richter Çolak einzustellen. Während der Verhandlungen kam es zu Praktiken, die in einem Gerichtsverfahren nicht akzeptiert werden sollten. So haben beispielsweise Zeugen ihre Aussagen zurückgezogen, oder es wurden Ungereimtheiten in ihren Aussagen aufgedeckt. Einige Beschwerdeführer wurden gegen ihren Willen in die Anklageschrift aufgenommen, ohne überhaupt zu wissen, warum sie in diesem Fall Beschwerde einlegten. Bei fast jeder Anhörung wurden die Mikrofone der Anwälte und Angeklagten ausgeschaltet, wenn sie sprachen, und die Zeugen wurden in Abwesenheit der Anwälte und Angeklagten gehört. Am 6. April lehnte das Gericht den Antrag der Angeklagten ab, über die Zeugenvernehmungen informiert zu werden, bevor sie stattfinden.
Kriminalisierung der HDP über fiktive Anschuldigungen
Angesichts all dieser skandalösen Praktiken hat die Regierung ihren nächsten Schritt gegen die HDP unternommen und eine zweite Verhaftungswelle eingeleitet. Wir haben bereits in unseren früheren Erklärungen darauf hingewiesen, dass es eine enge Verbindung zwischen dem Kobanê-Prozess und dem Schließungsverfahren gegen die HDP gibt, da der leitende Staatsanwalt des Schließungsverfahrens die meisten seiner Anschuldigungen gegen die HDP auf die Kobanê-Proteste stützt. Die Regierung will die HDP mit fiktiven Anschuldigungen kriminalisieren und plant, solche Anschuldigungen zu nutzen, um die Partei zu schließen.
Wir laden alle ein, ihre Stimme und Solidarität gegen die ständigen Angriffe auf unsere Partei zu erheben, die sich nicht nur gegen die HDP, sondern auch gegen die Möglichkeit eines demokratischen politischen Systems in der Türkei richten.