Soydan Akay: Friedensprozess darf nicht auf kranke Gefangene reduziert werden

Nach 32 Jahren in Haft warnt der ehemalige politische Gefangene Soydan Akay davor, den Friedensprozess auf die Freilassung kranker Inhaftierter zu verkürzen. Die Regierung lenke damit von tieferliegenden Problemen ab.

Nötig ist eine umfassende demokratische Öffnung

Der ehemalige politische Gefangene Soydan Akay hat vor einer Instrumentalisierung der Debatte um kranke Inhaftierte in der Türkei gewarnt. Die öffentliche Konzentration auf schwerkranke Gefangene dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein echter Friedensprozess eine umfassende gesellschaftliche Auseinandersetzung und politische Demokratisierung erfordere, erklärte Akay gegenüber ANF.

Nach Angaben des Menschenrechtsvereins IHD befinden sich derzeit rund 1.500 kranke Gefangene in türkischen Haftanstalten – mehr als 600 davon gelten als schwer krank. Seit Monaten mehren sich Forderungen aus der Bevölkerung und der Zivilgesellschaft, kranke Gefangene umgehend freizulassen und dies als ersten Schritt auf dem Weg zu einer politischen Entspannung zu nutzen.

Krankheit wird zum Vorwand

Soydan Akay selbst verbrachte 32 Jahre in Haft. Er wurde 1993 unter dem Vorwurf, regionaler PKK-Verantwortlicher in der Ägäis-Region zu sein, in Izmir verhaftet und später von einem Staatssicherheitsgericht zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Er war in insgesamt acht verschiedenen Gefängnissen untergebracht, darunter in Amed (tr. Diyarbakır), Sêrt (Siirt), Kırıklar und zuletzt im Marmara-Komplex in Silivri. 2018 wurde bei ihm Prostatakrebs diagnostiziert, hinzu kamen Herzprobleme, Hepatitis B sowie rheumatische Erkrankungen. Trotzdem weigerte sich die Justiz, ihn freizulassen.


„Die Regierung lenkt mit der Debatte um kranke Gefangene vom Kern des Problems ab“, sagt Akay. Zwar sei die Freilassung schwerkranker Gefangener eine humanitäre Notwendigkeit, doch der Fokus darauf dürfe nicht als Ersatz für echte politische Schritte herhalten. „Der Friedensprozess wird auf eine rein medizinisch-humanitäre Frage verkürzt, dabei geht es um grundlegende demokratische Reformen.“

Politisches Kalkül statt humanitärer Verantwortung

Akay sieht in der aktuellen Diskussion ein bewusstes Manöver der Regierung, um Zeit zu gewinnen und öffentliche Erwartungen zu steuern: „Der Staat nutzt die Lage kranker Gefangener für symbolische Politik. Es wird suggeriert, dass mit ihrer Freilassung ein entscheidender Schritt in Richtung Frieden getan sei, aber das ist ein Trugschluss.“

Die Regierung schiebe tatsächliche Lösungen bewusst auf die lange Bank, so Akay. Es brauche keine neuen Gesetze – die bestehenden rechtlichen Grundlagen würden eine Freilassung schwerkranker Gefangener ermöglichen. „Was fehlt, ist der politische Wille. Wenn es ernst gemeint wäre, könnte die Regierung das Problem in zwei Tagen lösen.“

Seine eigene Entlassung im vergangenen Mai erfolgte erst nach vier abgelehnten Anträgen auf vorzeitige Haftentlassung. Sieben Jahre lang war Akay unter extrem restriktiven Bedingungen in Einzelhaft untergebracht – obwohl er kein Gefangener mit erschwerter lebenslanger Haft war.

Gefängnisse sind Räume des Widerstands

Trotz der Haftbedingungen beschreibt Akay die Atmosphäre in den Gefängnissen als von Mut und Durchhaltewillen geprägt. „Die Menschen dort sind politisch wach, solidarisch und standhaft“, sagt er. Der Fokus auf Krankheit und Leid greife daher zu kurz. „Was nach außen getragen werden muss, ist der Widerstandsgeist der Gefangenen. Sie sind mutig, lebensbejahend, politisch bewusst. Das muss gesehen werden.“

Auch nach seiner Entlassung ist Akay politisch aktiv und warnt davor, das Gefängnis zur zentralen Projektionsfläche für politische Debatten zu machen: „Natürlich sind die Zustände schlimm. Aber der Freiheitskampf findet nicht nur in den Gefängnissen statt – er findet draußen in der Gesellschaft statt.“

Gesellschaftliche Verantwortung statt bloße Erwartungshaltung

Für eine nachhaltige politische Lösung fordert Akay ein stärkeres Engagement der demokratischen Öffentlichkeit: „Es ist gefährlich, alle Hoffnung in die Regierung zu setzen. Friedensprozesse brauchen breite gesellschaftliche Bewegungen, politische Projekte, kulturelle Auseinandersetzung, öffentlichen Druck.“

Er ruft zivilgesellschaftliche Gruppen dazu auf, eigene Konzepte zu entwickeln, statt auf symbolische Gesten zu warten: „Wenn kranke Gefangene freikommen, ist das großartig. Aber das darf nicht als Ersatz für eine echte Friedensstrategie herhalten.“

Sein abschließender Appell: „Kranke Gefangene sind Teil eines größeren Ganzen. Wer sich für sie einsetzt, muss auch für politische Reformen, Demokratie und gesellschaftliche Teilhabe kämpfen. Nur so ist ein echter Wandel möglich.“