Şêx Seîd: Neuer Kampf um Preisgabe geheimer Grabstätte

Vor fast hundert Jahren forderte Şêx Seîd den türkischen Staat heraus. Sein Widerstand führte zum Ende am Strick, markierte jedoch den Anfang etlicher kurdischer Kämpfe. Der Ort seines Grabs gilt bis heute als Staatsgeheimnis, ein Enkel will das ändern.

Fast ein Jahrhundert nach seiner Hinrichtung wird in der Türkei ein neuer Anlauf genommen, den Staat zur Offenlegung von Informationen zur Grabstätte des kurdischen Geistlichen und Widerstandsanführers Şêx Seîd zu zwingen. Den Vorstoß gestartet hat vergangene Woche die Rechtsanwaltskammer von Amed (tr. Diyarbakır) zusammen mit dem Verein Komeleya Şêx Seîd. Der offizielle Antrag dafür liegt dem Innenministerium bereits vor, die zur Gewährung des Informationszugangs gesetzte Frist beträgt vier Wochen. Bleibt das Ministerium dennoch eine Auskunft schuldig, öffnet sich der Weg für Klagen durch alle Instanzen.

Verfrüht ausgebrochener Widerstand

Der in den ersten Tagen des Februars 1925 in Pîran bei Amed unter der Führung Şêx Seîds – aufgrund eines unvorhergesehenen Zwischenfalls mit türkischen Soldaten (historische Quellen sprechen von einer gezielten Sabotage zur Verhinderung des Aufstands) – verfrüht ausgebrochene Serhildan machte den Anfang zahlreicher Rebellionen des kurdischen Volkes nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die dem Prozess der Nationalstaatsbildung nach dem Fall des Osmanischen Reiches folgten und sich gegen die Verleugnung der kurdischen Existenz, den Entzug der politischen Autonomie und die faschistische Türkisierungspolitik richteten. Der Aufstand, der nach Auffassung Şêx Seîds „besser organisiert“ erst zu Newroz beginnen sollte, umfasste unter anderem Teile von Amed, Xarpêt (Elazığ) und Çewlîg (Bingöl) und weitete sich im weiteren Verlauf auf vier historisch von Kurdinnen und Kurden besiedelte Vilâyets (Großprovinzen) im heutigen Südosten der Türkei aus. Zur vorübergehenden Hauptstadt wurde Dara Hênî (Genç) ernannt.

Beteiligte des Widerstands © Komeleya Şêx Seîd

Mit den erzielten Geländegewinnen wuchs auch die Stärke des Heerlagers stetig an, dessen Hauptquartier sich in Palo befand. Am 28. Februar war die Gruppe um Şêx Seîd bereits zu einer „Armee“ von 20.000 Mann herangewachsen. Ihr Erfolg und Vorwärtskommen zeichneten sich jedoch weniger durch organisierte Angriffe eines regulären Kampfverbands als vielmehr aufgrund des Einflusses Şêx Seîds aus. Dieser war nicht nur deshalb groß, weil er das ererbte Oberhaupt des Neqşbendî-Ordens war, sondern auch deshalb, weil er gleichzeitig Führer der Stämme in den kurdischen Vilâyets war. Überall wo die Aufständischen vorrückten, schlossen sich die Einheimischen ihnen an. Bis heute genießt Şêx Seîd in der kurdischen Gesellschaft ein sehr hohes Ansehen.

Wenige Wochen später, am 26. März 1925, begannen türkische Militäreinheiten Luft- und Bodenangriffe auf vermutete Rückzugsorte der kurdischen „Rebellen“, nachdem zunächst 25.000 Soldaten in die Region verlegt worden waren. Anfang April erreichte die türkische Truppenstärke etwa 52.000 Mann, doch dem Staat kamen bei der „Aufstandsbekämpfung“ auch die in Xarpêt zu jener Zeit eskalierenden Machtkämpfe und Rivalitäten zwischen lokalen Stammesführern gelegen. Einige von ihnen stellten sich auf die Seite der Truppen aus Ankara. Die unausweichliche Folge: der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, mindestens 15.000 Menschen wurden getötet. Ende April war der „Feind“ zum Kern des Widerstands vorgedrungen. Şêx Seîd und seine Mitstreiter, die sich zwischenzeitlich nach Dara Hênî zurückgezogen hatten, wurden auf dem Weg nach Mûş gefasst. Ein Schwager des Geistlichen, Kasım Ataç (genannt Qaso), der als Offizier im Osmanischen Reich gedient hatte, hatte sie verraten. Bald darauf wurden die Aufständischen nach Amed überführt, wo 53 von ihnen am 28. Juni 1925 vom „Östlichen Unabhängigkeitsgericht Diyarbakır“ zum Tod durch Erhängen verurteilt wurden – wegen „Aufruhr gegen den Staat“. Noch am selben Tag begann in Sûr die Vollstreckung der Urteile. Şêx Seîd und 46 seiner Freunde wurden am nächsten Tag öffentlich exekutiert.

Şêx Seîdê Pîran

Ein Staat, der selbst die Toten fürchtet

Um jegliche Kultentwicklung zu unterbinden, ließ der türkische Staat Şêx Seîds Körper und die seiner Weggefährten an einem geheimen Ort verscharren. Das Massengrab hätte sich sonst zu einem mythologischen Wallfahrtsziel entwickeln können, dies galt es zu verhindern. Der Verein Komeleya Şêx Seîd, der von Mehmet Kasım Fırat, einem Enkel des Geistlichen, gegründet wurde, setzt sich seit Jahren für die Preisgabe der Grabstätte ein. Doch wie schon in den ersten Tagen nach den Hinrichtungen stößt dieses Anliegen in Ankara noch heute auf taube Ohren. Handelt es sich um Kurdinnen und Kurden, wird ein respektvoller und sorgfältiger Umgang mit dem Andenken der Toten verweigert. Denn die sogenannte Aufstandsbekämpfung wirkt über den Tod des Feindes hinaus. Da ist es auch nicht von Belang, dass aufgrund der engen Verbundenheit den Angehörigen das Recht zusteht, über den Leichnam ihrer Toten zu bestimmen, die Art und den Ort der Bestattung festzulegen und sich gegen ungerechtfertigte Eingriffe in den toten Körper zur Wehr zu setzen. Bisher wurde jegliches Auskunftsersuchen hinsichtlich der anonymen Grabstätte von Şêx Seîd und seinen Freunden von der Regierung entweder mit der Begründung, der Fall berühre zu schützende „Staatsgeheimnisse“ abgewiesen, oder gar nicht erst beachtet.

Revidierung der offiziellen Geschichtsschreibung

„Die Belastungen, die sich aus der Haltung der Regierung für uns ergeben, sind in vielerlei Hinsicht gravierend“, sagt Mehmet Kasım Fırat. Da wäre zunächst das Leid der Nachkommen, das Vermächtnis Şêx Seîds nicht erfüllen zu können. „Mein Großvater sagte vor seinem Tod: ‚Ich habe etwas Geld, eine Gebetskette und eine Brille. Sie sollen meinen Erben übergeben werden. Meine Kinder sollen meine Grabstätte herrichten und mich zusammen mit meinen Freunden in die Erde lassen‘. Als ein weiteres primäres Ziel hat sich unser Verein die Revidierung der offiziellen Geschichtsschreibung auf die Fahne geschrieben“, erklärt Fırat. Seit den Hinrichtungen der Führungsriege des Serhildana Şêx Seîdê Pîran greifen für den türkischen Staat charakteristische Mechanismen der Desinformation. Es habe sich um einen Aufruhr gegen die Säkularisierungspolitik gehandelt, titelten die schon vor hundert Jahren kontrollierten Zeitungen. Der Geistliche und seine Gefolgsleute hätten versucht, die Scharia wieder einzuführen. „Dabei wissen wir doch, was damals geschah: Die Gründer des türkischen Staates hatten der kurdischen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg Selbstbestimmung und Autonomie zugesagt“, so der Enkel des Geistlichen. Doch nach dem Sieg im Krieg um Kleinasien (1919 bis 1922) schuf Mustafa Kemal einen Einheitsstaat, der plurale Identitäten unter dem türkischen Nationalismus unterdrückte. Ähnlich war es in Iran, wo sich der Schah durch „Atatürk“ inspirieren ließ. „Was den Kurd:innen in Sèvres versprochen worden war, wurde in Lausanne gestrichen.“

Seit 2019 arbeiten Mehmet Kasım Fırat (v.r.l.) und Nahit Eren (m.) mit weiteren Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft an der juristischen Initiative, den Staat zur Herausgabe der Koordinaten des Massengrabes von Şêx Seîd und seiner Freunde zu bewegen. Die Corona-Pandemie legte das Projekt eine Zeitlang auf Eis.


Eren: Gang zum EGMR möglich

Bis zum 16. März hat das Innenministerium Zeit, auf das Auskunftsersuchen zu reagieren, sagt Nahit Eren, Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer Amed. Lässt Ankara die Frist verstreichen, wird zunächst eine Klage beim Verwaltungsgericht eingereicht. Die nächsten Stationen wären dann der Reihe nach das Landesverwaltungsgericht, der Staatsrat und der Verfassungsgerichtshof. Sollte auch die letzte Instanz im Sinne des Staatsgeheimnisses entscheiden, wäre der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft. „Dann stünde uns der Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zu“, erklärt Eren. „Wenn es darauf hinausläuft, werden wir nicht zögern, diesen Weg zu gehen. Nach bald hundertjähriger Verweigerung, Şêx Seîd und seinen Freunden ein ehrenvolles Andenken zu erschaffen, ist es an der Zeit. Dieses Land muss endlich mit der Auseinandersetzung seiner eigenen Geschichte anfangen.“