Kurzer Umriss der kurdischen Frage
Eine Analyse des Hamburger Sozialwissenschaftlers Ramazan Mendanlioglu zur kurdischen Frage und den Entstehungsgründen des sogenannten Kurdenkonflikts
Eine Analyse des Hamburger Sozialwissenschaftlers Ramazan Mendanlioglu zur kurdischen Frage und den Entstehungsgründen des sogenannten Kurdenkonflikts
Die folgende Ausführung handelt von einer spezifischen Periode der kurdischen Geschichte, die eine wichtige Markierung darstellt und die gegenwärtige Situation der Kurden, die Ausprägung der Kurdenfrage sowie den damit zusammenhängenden Kurdenkonflikt[1] umfasst. Sie kennzeichnet die Aufteilung und Zersplitterung Kurdistans und die weitreichende Umwälzung der traditionellen kurdischen Gesellschaft. Die Zeiträume 1915 bis 1925 und 1925 bis in unsere Gegenwart markieren die zeitlichen Abschnitte der benannten Phase, in der die Quellen und Ursachen des gegenwärtigen Kurdenkonflikts und der Kurdenfrage liegen. Sie inkludiert aus regionaler und globaler Sicht den Zusammenbruch des Osmanischen Reichs und die Inkorporierung des Nahen und Mittleren Ostens durch westliche Staaten, die sich durch und kraft der industriellen Revolution in England und der (politischen) Französischen Revolution in einer „erneuten Expansion“ befanden (Zündorf 2010: 73). „Wenn es heute eine kurdische Frage gibt und diese Frage bis heute überdauert hat, dann sind die Ereignisse, die diese Frage geprägt haben, in den Jahren zwischen 1915 und 1925 geschehen. In dieser Epoche herrschte ein imperialistischer Verteilungskampf über Kurdistan, der zu dieser Aufteilung führte.“ (Besikci 1991: 29). Auf die globalpolitischen Verhältnisse und ihre komplexen und verwobenen Details kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden und das Folgende mag primär aus einer kurdischen Perspektive aus betrachtet sein. Es sei zudem wiederholt daran erinnert, dass der Kurdenkonflikt stets in einem regionalen und internationalen Kontext, Zusammenhang und der wechselseitigen Verflechtung diverser Aspekte und Entitäten zu betrachten ist (Brauns/Kiechle 2010; Besikci 1991; Skubsch 2002: 117-120; Kendal 1994). Des Weiteren wird sich der Fokus und Inhalt dieses Abschnitts gegen Ende primär auf Nordkurdistan bzw. die Türkei verlagern. Dies deshalb, weil sich die Entstehung der kurdischen Bewegung dort vollzog und die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs den wichtigsten regionalen Akteur im Hinblick auf die kurdische Frage darstellt.
Diese Periode kurdischer Geschichte hatte nicht nur sehr verlustreiche politische Folgen und brachte die Gefahr der physischen und kulturellen Vernichtung der Kurden mit sich (Vgl. Brauns/Kiechle 2010: 16-30), sondern auch, bedingt durch mehrere Faktoren, die Grundlegung neuer Oppositionsformen in Kurdistan. Diese neuen Formen, entstanden im Kontext der damals bipolar geordneten Welt, waren „supra tribal“ (höhergeordnet als stammesgesellschaftliche Organisierung), säkular bzw. nicht mit Konfession oder Religion in Beziehung stehend und hatten den Charakter von Volksbewegungen, wohingegen die traditionelle kurdische Opposition elitär gekennzeichnet war. Dieser Abschnitt soll die Entstehungsbedingungen und -ursachen dieser Emergenz skizzenhaft darlegen und zum besseren Verständnis der kurdischen Bewegung um die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) führen.
Bereits Anfang 19. Jahrhunderts, der Zeit der osmanischen End- und Krisenphase, wackelt das alte „Machtverhältnis in Kurdistan, bestimmt durch eine schwache osmanische Kontrolle und weitgehende Unabhängigkeit kurdischer Herrscher“ (Strohmeier/Yalcin-Heckmann 2000: 75) und es kommt zu Aufständen kurdischer Fürsten, deren Ursachen je nach Blickwinkel und Historiker unterschiedlich begründet werden. Wichtig ist, dass die Aufstände im 19. Jahrhundert nicht nationalen Zwecken dienten, sondern um Ausweitung oder gegen Verringerung der „uralten Autonomie“ (Kendal 1991: 33) vollzogen wurden. „Die kurdische Frage in ihrer heutigen Form ist das Ergebnis der von den Großmächten betriebenen Aufteilung des Nahen- und Mittleren Ostens nach dem [Ersten] Weltkrieg.“ (Brauns/Kiechle 2010: 16). Schon lange vor dem Ende des Ersten Weltkriegs, bei dem das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands und Österreichs militärisch vernichtend unterlag und zusammenbrach, ist 1916 in Geheimabkommen zwischen den wesentlichen alliierten Siegermächten Großbritannien und Frankreich die Zukunft der Region abgestimmt worden[2]. Der auf diese Verhandlungen basierende, zwar unterschriebene aber nie ratifizierte Vertrag von Sevres (10.08.1920) „sah die Errichtung eines armenischen Staates im Nordosten und eine gewisse kurdische Souveränität – eine anfängliche Autonomieregierung mit der Aussicht auf einen eigenen Staat – vor.“ (Skubsch 2002: 117). Gegen diesen Vertrag, der das türkische Territorium auf ein kleines Stück in Mittelanatolien reduzierte, mobilisierte der türkische General Mustafa Kemal die anatolischen Bauern und zahlreiche kurdische Stämme. Seine Strategie beinhaltete die Hervorhebung der gemeinsamen islamischen Identität der Kurden und Türken, die taktische Lüge der Loyalität dem Kalifat und dem Sultanat gegenüber sowie das Versprechen einer gemeinsamen Republik von Türken und Kurden (Vgl. ebd.: 119f; Brauns/Kiechle 2010: 20; Vanly 1994; Kendal 1994: 33). Es sei noch erwähnt, dass der Vertrag von Sevres aus diversen Gründen auch bei vielen Kurden trotz der Aussicht auf Autonomie auf Ablehnung stieß. Einer der Gründe war, dass der in ihm vorgesehene armenische Staat große Teile der kurdischen Siedlungsgebiete miteinschloss, damit zusammenhängend auch die Angst und Ablehnung unter einer christlich-armenischen Herrschaft zu leben. Ferner klammerte der Vertrag den Status Ostkurdistans (Iran) aus, und auch im Allgemeinen betrachtete die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung „die internationale Entscheidung als aufgezwungen und bevorzugte, unabhängig zu sein oder notfalls weiter mit den Türken zu leben, mit denen sie immerhin die Gemeinschaft des Islam verband.“ (Vanly 1994: 198).
„Der spätere »Atatürk« (»Vater aller Türken«) hatte ihnen dafür die Gründung eines gemeinsamen Staates der Türken und Kurden zugesagt. Auf der ersten Sitzung der Großen Nationalversammlung im April 1920 in Ankara waren rund siebzig kurdische Abgeordnete anwesend, die offiziell als »Abgeordnete Kurdistans« bezeichnet wurden“ (Brauns/Kiechle 2010: 20).
Als dieser Staat gegründet und vom Lausanner Vertrag im Juli 1923 anerkannt war, brach Mustafa Kemal seine Versprechen für die kurdische Autonomie sofort und löste die Nationalversammlung auf, in der auch 75 kurdische Abgeordnete gesessen hatten. Er schloß sogar kurdische Schulen und verbot jeden Ausdruck kurdischer Kultur.
Die irakischen Kurden lernten aus dieser bitteren Erfahrung, und als sie im Januar und Februar 1925 von einer Delegation des Völkerbundes befragt wurden, entschied sich eine überwältigende Mehrheit von sieben Achteln für einen unabhängigen kurdischen Staat und kategorisch gegen die Rückkehr unter türkische Souveränität und Annektion durch den Irak. Der Rat des Völkerbundes beachtete diese klare Stellungnahme jedoch nicht und beschloß am 16. Dezember 1925 auf Verlangen des Britischen Imperiums, das Mandatsträger für den Irak war, dieses kurdische Territorium mit seinem Erdöl-Reichtum dem Staat des Irak einzugliedern. Im Austausch für ihr Einverständnis mit diesem ungerechten britischen Plan erhielten Frankreich und die Vereinigten Staaten je 23,7 % der Einkommen der Turkish Petroleum Company, die später in die Iraq Petroleum Company umgewandelt wurde, in Berechnung der Ausbeutung aller Ölreserven Kurdistans. (Kendal 1994: 34f).
1921 wurde kraft eines türkisch-französischen Abkommens Westkurdistan (Rojava, Nordsyrien) an Syrien angegliedert, das damals unter französischem Mandat stand; „während der Iran die Unabhängigkeitsbewegung unter Führung des kurdischen Oberhauptes Simko überwältigt hatte.“ (ebd.). Nach dem durch den erfolgreichen Befreiungskrieg unter Mustafa Kemal erzwungenen Lausanner Vertrag vom 24. Juli 1923 war die Aufteilung und Zersplitterung der Kurden und Kurdistans vollendet „und das Bühnenbild für die zukünftige Tragödie des kurdischen Volkes war erstellt“ (Kendal 1994: 34). Bei den Vertragsverhandlungen wurden die Kurden gar nicht bzw. angeblich von den Türken und Briten vertreten; die britische Delegation wurde vom Hauptaktionär der westlichen Turkish-Petroleum Company, Lord Curzon, angeführt (vgl. Brauns/Kiechle 2010: 21). Der Vertrag legt die bis heute gültigen Grenzen fest, im Gegensatz zum Vertrag von Sevres wurden die Kurden in Lausanne nicht mehr erwähnt. Plötzlich war das (wahrscheinlich[3]) zahlenmäßig drittgrößte Volk des Nahen Ostens in den jeweiligen Staaten jeweils zu einer Minderheit geworden (Vgl. Besikci 1991: 21-24); doch noch nicht einmal Minderheitenrechte wurden ihnen in den auf Homogenisierung basierenden neu entstandenen Nationalstaaten zugestanden. Der türkische Soziologe Ismail Besikci beschreibt die Zementierung der Lage des Nahen Ostens im Lausanner Vertrag, in seinem für die anfängliche PKK zentralem Werk folgendermaßen: „Kurdistan hat weder einen politischen Status, noch eine politische Identität. Die Kurden sind ein Volk, welches man versklaven und seiner Identität berauben will, klarer ausgedrückt, es soll mit seiner Kultur und Sprache von der Erdbodenfläche getilgt werden.“ (Besikci 1991: 16f). Zwar heißt sein Buch Kurdistan. Internationale Kolonie, doch durch die imperialistische Aufteilung mit der Hilfe „regionaler Kollaborateure“ verwehrte man Kurdistan selbst den Status einer typischen Kolonie oder Halbkolonie: „Kurdistan ist noch nicht einmal eine Kolonie, das kurdische Volk ist noch nicht einmal kolonisiert. Der politische Status Kurdistans und des kurdischen Volkes befindet sich sehr weit unter dem einer Kolonie.“ (ebd.). Damit ist die Gleichzeitigkeit der kolonialen Ausbeutung Kurdistans und die Verleugnung der Kurden gemeint. Klassische Kolonien hatten noch einen Status als Kolonien und erlangten im Zuge des Zusammenbruchs des Kolonialismus ihre heutige (staatliche) Unabhängigkeit. Die kulturelle, nationale oder ethnische Identität der Kolonialländer wurde anerkannt, nicht so in Kurdistan. Wegen seiner Forschungen zum Thema Kurden wurde Besikci insgesamt acht Mal verurteilt und saß 17 Jahre im Gefängnis.
Durch den Vertrag von Lausanne wurde laut Brauns und Kiechle (2010: 19) „viel von dem Zündstoff gelegt, der den Nahen Osten bis heute zum Pulverfass macht.“ Mit der „Vierteilung Kurdistans wurde ein bis heute ungelöster nationaler Widerspruch erzeugt, der vom Imperialismus immer wieder zur Einflussnahme in der ganzen Region genutzt wird.“ Die Kurden sind aus Sicht vieler Autoren sowohl die Verlierer als auch das Instrument dieser Situation der „Teile-und-herrsche-Politik“ geworden. Mit verheerenden Folgen, z. B. mehrmaligem Giftgasangriff, nicht nur von Diktatoren wie Saddam Hussein (1988) oder den Kemalisten in Dersim 1937/38, sondern auch von Groß Britannien gegen die „unzivilisierten Stämme“, die in Südkurdistan Mitte der 1920er Jahre von Scheich Mahmud Berzencî angeführt wurden (vgl. ebd.: 18,33).
Gegen den Umstand der politischen und rechtlichen Nichtexistenz und dem Abhandenkommen der aus Sicht der kurdischen Aristokratie ewigen Autonomie führten die Kurden in allen vier Teilen Kurdistans sowohl vor als auch nach dem Ende des Weltkriegs zahlreiche Aufstände (Besikci 1991:82f). Nie waren sie kooperativ oder koordiniert zwischen den Stämmen, Konfessionen oder Regionen Kurdistans, obgleich sie nationalistisch begründet waren. Dem muss hinzugefügt werden, dass alle Aufstände der Kurden entweder durch aktive militärische Beteiligung oder indirekte Unterstützung der westlichen Mächte niedergeschlagen worden sind (Vgl. Kendal 1991: 35f, Besikci 1991). Gegen die junge Türkische Republik fanden ab 1924 zahlreiche Revolten statt, deren Anfang der Scheich Said Aufstand[4] machte; alle wurden blutig niedergeschlagen. Sie richteten sich gegen die Verleugnung der Kurden, dem Einzug der politischen Autonomie und die faschistische Türkisierungspolitik: „Nach 1922 sprachen die Kemalisten nicht mehr von der kurdisch-türkischen Brüderschaft, sondern allein von den Wünschen und Rechten der Türken.“ (Bruinessen 1984: 142, zit. nach Skubsch 2002: 120; Vgl. auch Brauns/Kiechle 2010: 27ff). Die an den Westen orientierte moderne Türkei sollte nach der Vorstellung Mustafa Kemals eine schnelle Verwestlichung (Industrialisierung, Säkularisierung, repräsentativ-demokratische und rechtstaatliche Konstitution) durchgehen; das Prinzip des Nationalismus wurde dahingehend interpretiert, verfassungsrechtlich festgelegt und institutionell weitergegeben, dass in der Türkei keine andere Nationalität außer der türkischen existiert. Der Nationalismus wurde nach dem (ethnischen) deutschen, der Nationalstaat nach dem (zentralistisch-) französischem Modell etabliert. Dies impliziert die zentrale Herrschaft der türkischen »Ethnie« und legt den Grund für die Assimilation und Unterdrückung anderer ethnischen Gruppen (Vgl. Topcuoglu 2015: 12-13). Ein schlechtes Modell, um das Vielvölkerreich der Osmanen abzulösen. Atatürks Reformen prägten (auch ohne Erfolg) die Türkei grundlegend, so Sabine Skubsch (2002: 121), jedoch war dies nur ein kaum gelungener Top-Down-Prozess, der von einer dünnen Schicht in den Städten ausging; „Offiziere und Teile der Oberschicht. (…) Die Masse der anatolischen Landbevölkerung stand auch Jahrzehnte später nicht hinter den Umwälzungen, da sie keinen Wandel der Grundlagen ihrer sozialen Existenz herbeiführten. Der Kemalismus beschränkte sich auf eine Veränderung des Überbaus, lies aber die sozialen Verhältnisse stehen.“. Aus dieser Perspektive lassen sich auch die beiden bis heute bestehenden Opponenten der sich gegenwärtig in einem Auflösungsprozess befindenden kemalistischen Türkei festmachen: die islamisch-konservative türkische Basis und die kurdische Bevölkerung.
Ferner sieht die Autorin, dass die Kemalisten die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Türkei nicht als Ausgangspunkt genommen haben und auch nie Programme konzipierten, die die Strukturen religiöser, ethnischer oder politischer Art integrieren hätten können und sollen. „Es wurden im Gegenteil große Anstrengungen unternommen, all diese als feindlich angesehenen Strukturen zu bekämpfen“. (ebd.: 123).
Dem Scheich Said Aufstand folgten weitere Revolten und Aufstände. Der letzte große Aufstand in Nordkurdistan war der von Seyid Riza angeführte Widerstand von den kurdischen Aleviten in Dersim (1936-1938). Diese waren einige der gänzlich autonomen Stämme, von denen bereits die Rede war. Dersim ist eine sehr bergige und bewaldete Region, so dass der Rückzug und der Widerstand vorteilhaft waren. Der Aufstand lehnte sich wie die anderen zuvor gegen die Verleugnungs- und Assimilierungspolitik Atatürks, welches auch die Aufhebung der Autonomie Dersims bedeutete. In einem Schreiben vom 30. Juli 1937 ruft Seyid Riza den britischen Außenminister:
Seit Jahren versucht die türkische Regierung, die kurdische Bevölkerung zu assimilieren, indem sie sie unterdrückt. Sie verbietet, ihre Zeitungen und Bücher in kurdischer Sprache zu lesen, verfolgt jene, die ihre Muttersprache sprechen und organisiert so die systematische Vertreibung von den fruchtbaren kurdischen Ländern in das unkultivierte Anatolien, wo ein großer Teil der Flüchtlinge umkommt. Drei Millionen Kurden leben in diesem Land und bitten nur darum, in Frieden und Freiheit leben zu können, um ihr Volk, ihre Sprache, ihre Traditionen und Zivilisation zu erhalten. Im Namen des kurdischen Volkes bitte ich Eure Exzellenz, das kurdische Volk mit Ihrem großen moralischen Einfluss zu unterstützen, damit diese grause Ungerechtigkeit bald ein Ende hat. (Britisch Public Report Office, zit. nach Brauns/Kiechle 2010: 29).
Dieser Hilferuf blieb ohne Reaktion. Seyid Riza wurde zusammen mit seinem Sohn und anderen zentralen Figuren des Aufstands erhängt. Wie auch nach anderen Aufständen und als Grundelement türkischer Kurdenpolitik, wurden tausende von Menschen und ganze Stämme vertrieben, deportiert oder umgesiedelt (Vgl. Brauns/Kiechle 2010: 30). Die Kommunistische Partei der Türkei schätzte als Opfer der Vertreibungen und niedergeschlagenen Aufstände zwischen 1925 und 1938 mehr als 1,5 Millionen deportierte und massakrierte Kurden (vgl. ebd.: 30). Nach dem Dersim Aufstand brach eine „Friedhofsruhe“ in Nordkurdistan ein, es folgte eine lange Phase der militärischen Besatzung, ökonomischen Ausbeutung und Benachteiligung sowie der zwangsassimilatorischen Maßnahmen (Skubsch 2002: 135). Feudale Institutionen wie die des Scheichs oder Großgrundbesitzers (Aga) in Kurdistan wurden und werden bis heute bewusst am Leben gehalten. Mit den übriggebliebenen Großgrundbesitzern und Stammesführern ging der Staat - unter der Bedingung der Verleugnung der kurdischen Identität – ein Bündnis ein, auf das sich die Kurdenpolitik der Türkei stützte.
In den Jahren 1937 und 1938 wurde der Aufstand von Dersim mit Völkermordmethoden unterdrückt. Auf diese Weise wurden in Nordkurdistan alle Widerstandsnester ausgelöscht. Alle Zentren, die über ein Aufstandspotential verfügten, wurden aufgelöst. Danach begann man, Kurdistan organisch im Staatskörper aufgehen zu lassen. Die Lösung hierfür bestand zweifellos in der Einberufung von Soldaten zum Wehrdienst, der Eintreibung von Steuern und der regelmäßigen Durchsetzung dieser Maßnahmen. Die Existenz des türkischen Staates wurde bis in den letzten Winkel der Gesellschaft spürbar, das türkische Ausbildungswesen wurde eingeführt und jede Möglichkeit zur Verbreitung der türkischen Kultur ergriffen. Die Massen sollten von der kurdischen Identität losgelöst und assimiliert werden. Während dieses Prozesses konfrontierte der Staat die herrschenden kurdischen Klassen – die Scheichs, die Sippenchefs und die Großgrundbesitzer – mit folgender Alternative: Entweder ihr verzichtet vollkommen auf das Kurdentum, streitet ab, daß ihr Kurden seid und werdet zu Türken, oder ihre werdet wie Scheich Said oder Seyid Riza und andere am Galgen enden. Eine dritte Möglichkeit wird es nicht geben. Ihr müßt wissen, daß es keine andere Möglichkeit gibt, um am Leben zu bleiben, als Türken zu werden. (Besikci 1991: 83).
Erst Mitte der 60er Jahre regten sich in der Türkei einzelne kurdische Intellektuelle wieder und es gab erste Zeichen von politischer Mobilisierung der Kurden, meist in türkisch-linkspolitischen Kreisen, wo das Beanstanden ungerechter ökonomischer und feudaler Verhältnisse in der damals bipolar geordneten Welt leicht Anschluss fand. In diesem Kontext entstand auch die PKK.
Auch in anderen Teilen Kurdistans kam es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wiederholt zu Aufständen und zu Versuchen einer Staatsgründung. Dabei wurden die Kurden oft im Rahmen globalpolitischer Auseinandersetzungen instrumentalisiert und fallen gelassen, ferner wurden sie zum Opfer der Geschichte, wie z. B. 1946 in Ostkurdistan, als die dort von Gazi Mohammed ausgerufene Republik von Mahabad – der erste kurdische Staat der Neuzeit - ein Jahr nach seinem Bestehen durch das Fallenlassen der Sowjetunion die Existenz aufgeben musste. Es folgten noch andere Beispiele in Südkurdistan während des achtjährigen Iran-Irak-Kriegs oder des ersten Golfkriegs (Vgl. ebd.:31-36). Die detaillierte Darstellung dieser historischen Ereignisse würden den Rahmen sprengen. Wichtig ist festzuhalten, dass alle Aufstände der Kurden im frühen 20. Jahrhundert von einzelnen Herrschern oder religiösen Figuren angeführt wurden; die Revolten waren durch Stammesloyalitäten gekennzeichnet und religiöse Symbole spielten dabei eine wichtige Rolle (z. B. Scheich Said für Sunniten oder Seyid Riza für Aleviten). Damit zusammenhängend waren die Gebilde Religion und Stamm zentrale Mechanismen der Mobilisierung, auch wenn es sich dabei um Bestrebungen nach nationaler Selbstbestimmung handelte (vgl. Caglayan 2012: 7). Dies änderte sich 1946 mit der Gründung der ersten kurdischen Partei, Kurdisch Demokratische Partei (KDP), unter der Führung von Mustafa Barzani. Obgleich die KDP bis heute tribalistische Züge aufweist wurde sie zu einer Volkspartei in Südkurdistan und beeinflusste die politische Organisierung der Kurden auch in den anderen Teilen Kurdistans. Wie auch die in den 1970er Jahren gegründete und erste »supra-tribale« kurdische Partei, die PKK, wurden auch die KDP und die YNK (Patriotische Union Kurdistans) in den 2001 Jahren als nichtstaatlicher Akteur von den USA als Terrororganisationen aufgelistet.
Quellen:
[1] Mit Kurdenkonflikt ist der bis heute existente militärische und politische Kampf zwischen der PKK und dem türkischen Staat gemeint. Die Kurdenfrage hingegen bezeichnet die Aufteilung der kurdischen Siedlungsgebiete und die damit einhergehenden Probleme in den jeweiligen Staaten seit dem Ende des Ersten Weltkriegs.
[2]In dem nach dem englischen Politiker Sykes und dem französischen Diplomaten Picot benannten und 1916 entstanden „Sykes-Picot-Abkommen“ wurde die Aufteilung des Nahen und Mittleren Ostens wie folgt unterzeichnet: „Mesopotamien, Jordanien sowie die nördliche arabische Halbinsel sollten britischem Einfluss unterstellt, während Frankreich Syrien, den Libanon und das erdölreiche Gebiet um Mosul zugesprochen bekam.“ (Skubsch 2002: 117, Fußnote 95)
[3]Aufgrund der Unterdrückungs- und Verleugnungspolitik der diversen Staaten den Kurden gegenüber existieren keine bzw. sehr divergente Zahlen. Oft ist die Rede von 40 Mil. Kurden, doch sind an anderen Stellen auch 20 zu lesen. Die meisten Schätzungen beziffern die Anzahl der Kurden zwischen 30-50 Mil.
[4]„Anders als der Name vermuten lässt, ging die Initiative und Planung nicht auf religiöse Führer, sondern auf die dem erwachenden kurdischen Nationalismus verbundene Organisation Azadi zurück. Diese war 1923 von kurdischen Offizieren, Scheichs, Stammesführern und städtischen Notabeln gegründet worden. Aus Mangel an einer bekannten Führungspersönlichkeit griff Azadi auf den populären Scheich Said zurück.“ (Skubsch 2002: 133).