Entwicklung der PKK hin zu einer nationalen Befreiungsbewegung

Eine Analyse des Hamburger Sozialwissenschaftlers Ramazan Mendanlioglu zur PKK als einer kurdischen Nationalbewegung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Debatten über die Arbeiterpartei Kurdistans.

Vor dem Hintergrund der sozioökonomischen Veränderung der kurdischen Gesellschaft, dem Bestehen der feudalen Institutionen und der damit einhergehenden Armut und Kluft entstanden ab Mitte der 1960er Jahre nach der „Friedhofsruhe“ seit 1938 neue oppositionelle kurdische Gruppen. Im Zuge dieser Entwicklungen organisierten sich kurdische Studierende und Intellektuelle in der neu gegründeten „Arbeiterpartei der Türkei“ (TIP) und formierten innerhalb der TIP die „Revolutionären Kulturvereine des Ostens[1]“ (DDKO), welche zum Sammelplatz für viele kurdische Politiker wurde, darunter auch Abdullah Öcalan, dem späteren Gründer der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK). Unzufrieden mit der politischen und ökonomischen Lage gaben junge kurdische Arbeiter und Studenten die Schuld dafür sowohl den lokalen Eliten als auch dem Staat. Diese konkreten politischen Ansichten festigten sich später in der Ideologie der PKK, welche Kurdistan als Kolonie und durch die Zusammenarbeit der lokalen Eliten mit dem Staat wirtschaftlich ausgebeutet und politisch unterdrückt betrachtete. Nach dem Militärputsch von 1971, der gegen die „demokratischste Verfassung der Türkei“ und der damit einhergehenden Stärkung sozialer, vor allem aber linker Bewegungen gerichtet war, wurden alle sozialistischen Parteien und Organisationen verboten und in den Untergrund getrieben. Zu der Zeit hatte es noch keine explizit kurdischen Organisationen gegeben. Ende der 1970er Jahre radikalisierten sich aufgrund des Militärputsches und der Repression die kurdischen Gruppen, begannen ihre eigenen Organisationen zu gründen und artikulierten Ziele wie die Unabhängigkeit. Eine dieser Gruppen war die Studierendenbewegung um die Person Abdullah Öcalan mit dem Namen Revolutionäre Kurdistans, die 1975 das erste Mal an die Öffentlichkeit trat. Von bisherigen kurdischen Gruppen und Bewegungen unterschieden sich die Apoisten[2] insbesondere durch ihren sozialen Hintergrund, insbesondere der des Abdullah Öcalan. Die meisten Gründungsmitglieder der späteren PKK stammen aus ländlichen und ärmlichen Verhältnissen. In den kurdischen Provinzen organisierten die Apoisten die Bauern und Arbeiter und betrieben Agitation unter ihnen, es kam zu Landbesetzungen der Bauern gegen die Großgrundbesitzer. Diese Auseinandersetzungen verwandelten sich zeitweise in einen Bauernkrieg. Das Ansehen der Apoisten nahm bei der armen Bevölkerung aufgrund des konsequenten Vorgehens gegen die mächtigen Großgrundbesitzer schnell zu. Die Formierungsphase (1973-1978) der Apoisten hin zu einer Partei war neben der politischen Aktivität insbesondere durch politische, soziologische und historische Analysen der kurdischen Gesellschaft gekennzeichnet. Dabei fand eine Festigung der ideologischen Haltung statt und die Verbreitung und Akzeptanz in den kurdischen Gebieten vollzog sich sukzessive. Der nächste Schritt in der Entwicklung war die institutionelle Formierung hin zu einer Partei. Am 27. November 1978 wurde im Dorf Fis in der Provinz Diyarbakir (Amed) die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistan – PKK) gegründet. Unter den Gründungsmitgliedern befanden sich auch zwei Frauen, Sakine Cansız und Kesire Yildirim; Abdullah Öcalan wurde zum Vorsitzenden, Cemil Bayik zu seinem Stellvertreter gewählt.

Das Massaker von Maraş

Zwei weitere Geschehnisse sind im Zusammenhang mit der Verankerung und Akzeptanz der PKK von grundlegender Bedeutung. Im Dezember 1978 ereignete sich ein paar Wochen nach der Gründung der PKK das Massaker der türkischen Faschisten um die MHP[3] und ihren Anhängern der Grauen Wölfe an den kurdischen Aleviten in der Stadt Maraş. Dort bekamen die Apoisten aufgrund der Vertretung einer großen alevitischen Gemeinde und ihrer linkspolitischen Tendenz sowie ihrer eigenen regen politischen Aktivität starken Zulauf. Die pogromartige Verfolgung und Tötung von mehr als 110 fast gänzlich alevitischen Kurden wurde zunächst vom Staat tatenlos hingenommen und später als Vorwand genommen, um das Kriegsrecht über die gesamte Türkei zu verhängen sowie um „Ruhe und Ordnung“ im Lande wiederherzustellen. Die Vorkommnisse hatten gesamtgesellschaftliche Auswirkungen und förderten den politischen Zusammenschluss zwischen nennenswerten Teilen der Gesellschaft und der PKK.

Der Gefängniswiderstand von Amed

Das zweite zentrale Ereignis war der Gefängniswiderstand in Diyarbakir (Amed). Beim dritten Militärputsch (1980) innerhalb dreier Jahrzehnte kam es zur Festnahme von 650.000 Menschen; 200.000 Menschen wurden verhaftet, von denen Ende 1983 40.000 noch immer in Haft waren. Unter den Verhafteten befanden sich auch um die sechzig Kader und Tausende Anhänger der PKK. Die Gründe für den Putsch waren, wie bereits angedeutet, unter anderem die noch immer starke linke Bewegung in der Westtürkei und ihre gewalttätigen Auseinandersetzungen mit türkischen Rechten der Grauen Wölfe sowie die dadurch hervorgerufene instabile politische Lage. Schließlich war der Putsch gegen die Gefahr eines nationalen Erwachens der Kurden im Osten des Landes durch die Erstarkung und Verbreitung der PKK. Während Öcalan sich bereits 1979 über Syrien in den Libanon begab, um Kontakte für eine Niederlassung in Syrien und im Libanon zu knüpfen, verlagerte sich die Widerstandsfront in die Gefängnisse, wo tausende der PKK-Aktivisten sich zunehmend auch dort organisierten. Es erfolgten Hungerstreiks und andere Protestaktionen gegen schwere physische und psychische Folter. Unter den gefangenen Führungskadern befanden sich auch die Zentralkomitee-Mitglieder Mazlum Doğan, Hayri Durmuş, Kemal Pir und Sakine Cansız. Mazlum Doğan erhängte sich aus Protest gegen Folter und Kapitulationsforderungen und gab dadurch das Signal zum Widerstand. Nach seinem Tod und dem Todesfasten, bei dem Kemal Pir, Hayri Durmuş und andere verstarben, brachen Unruhen aus, die dann zum internationalen Bekanntwerden des Gefängniswiderstandes führten. Vor seinem Selbstmord steckte Mazlum Doğan seine Zelle in Brand, um symbolisch am 21. März (1982) auf das kurdische Neujahrsfest Newroz und den daran gekoppelten Mythos vom Schmied Kawa[4] hinzuweisen. Selbsttötungen durch Selbstverbrennung anderer Gefangener folgten. Auch in der spezifischen Geschichte der kurdischen Frauenbewegung stellt der Gefängniswiderstand von Diyarbakir ein wichtiges Element der Bewusstseinsbildung als ein Geschlecht sowie einen Wendepunkt hinsichtlich der Beteiligung der Frauen dar. Unter den Häftlingen war auch die PKK-Mitbegründerin Sakine Cansız oder die spätere Bürgermeisterin von Diyarbakir Gülten Kışanak, die wie andere als Studierende aktiv waren. „They tried to beat us down, to rob us of our dignity, to stamp out our Kurdishness, to crush our feminine identity. The torture was unrelenting. But we resisted“, so Gültan Kışanak in einem Interview mit der Zeitung Al-Monitor (2015). Im Gegensatz zu einigen männlichen Genossen sei keine Frau gebrochen und übergelaufen. Die Standhaftigkeit und Stärke der Frauen unter Haft und Folter hätten den Argumenten und Stimmen einiger Teile innerhalb der Gesellschaft und der PKK maßgeblich entgegengewirkt, die der Meinung waren, „dass Frauen und Mädchen gegenüber der Gefahr geschützt werden müssten, durch Soldaten und Polizisten gefoltert und vergewaltigt zu werden, und sich von politischen Organisationen fernhalten sollten“, wie das kurdische Frauenbüro Cenî beschreibt. Im Allgemeinen hatte der Gefängniswiderstand von Diyarbakir eine nachhaltige Wirkung auf die kurdische Bevölkerung und die weitere Zukunft der PKK. Die zentralen Figuren des Gefängniswiderstandes gehören heute zu den idealisierten „Märtyrern“ der PKK, „deren Bilder in kurdischen Vereinen und Wohnzimmern patriotischer Familien einen Ehrenplatz einnehmen. So trug das Opfer von Durmuş, Pir und Doğan im Militärgefängnis wesentlich zum Ruf der PKK als Organisation unbeugsamer Militanter bei und ermutigte die in der Freiheit verbliebenen, ihren Widerstand fortzusetzen.“ (Brauns/Kiechle 2010: 51).

Während nach dem Putsch vom 1980 die gesamte türkisch-sozialistische Linke und andere kurdische Organisationen in der Türkei zerschlagen und nahezu aufgerieben wurden, beorderte Öcalan die restlichen PKK-Kader in den Libanon, wo eine Zeit intensiver politischer Bildung und ideologischer Schulung der ca. 300 Parteikader stattfand. Auch eine militärische Ausbildung und die Vorbereitung des Aufbaus einer Guerilla-Armee wurden im Libanon und später in Syrien verwirklicht.

Bereits 1982 kehrten erste bewaffnete Einheiten nach Nordkurdistan zurück, um vor allem in ländlichen Gebieten Propaganda zu betreiben und neue Kämpfer zu rekrutieren. Am 15. August 1984 begann der offizielle bewaffnete Kampf, als es zu zwei militärisch eigentlich unbedeutenden, aber in ihrer Symbolik historischen Aktionen kam. In Eruh und Şemdinli wurden Militär- und Polizeikasernen besetzt und die Erklärungen der Guerilla über die Lautsprecher der Moscheen verlesen: „Die HRK [Einheiten zur Befreiung Kurdistans – Militärischer Arm der PKK; Heute HPG – Volksverteidigungskräfte] verfolgt das Ziel, den Kampf unseres Volkes um nationale Unabhängigkeit, eine demokratische Gesellschaft, Freiheit und Einheit, unter der Führung der PKK gegen den Imperialismus, den türkischen Kolonialfaschismus und ihre einheimischen Lakaien bewaffnet zu führen.“ Das türkische Militär versuchte die PKK in kurzer Zeit zu besiegen, doch gelang ihr das nicht. Die Guerilla weitete bereits 1986 ihren Aktionsradius auf weite Teile des Südostens der Türkei aus. Die Regierung reagierte mit einem „Spezialkrieg“, der einen Mix aus militärischen und politischen Maßnahmen umfasste und von einer massenmedialen Anti-PKK-Propaganda begleitet wurde. Das Dorfschützersystem[5] wurde 1985 eingerichtet. Stämme, die staatsloyalen Großgrundbesitzern unterstanden, wurden gegen Bezahlung bewaffnet. Viele bäuerliche Dörfer waren oft aus existenziellen Gründen mehr oder weniger dazu gezwungen Dorfschützer zu werden. Dörfer und Stämme, die es ablehnten, gegen die Guerilla zu kämpfen, mussten ihre Dörfer räumen. So wurden ab 1988 bis 1999 zwischen 3000 bis 5000 Dörfer geräumt, teilweise zerstört und über zwei Millionen Menschen vertrieben.

Die folgenden Taten des türkischen Staates werden vor allem deshalb dargelegt, weil sie eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der PKK hin zur nationalen Befreiungsbewegung gespielt haben.

In den kurdischen Siedlungsgebieten wurde 1987 der Ausnahmezustand verhängt und ein von der Regierung als „regelrechter Kolonialgouverneur“ eingesetzter verlängerter Arm Ankaras verankert. Beide Maßnahmen sind bis in die Gegenwart noch existent. „Konterguerillaeinheiten der Armee, die vor allem unter Anhängern der faschistischen Grauen Wölfe rekrutiert wurden, verübten Massaker an der Zivilbevölkerung. Todesschwadronen des später unter dem Namen JITEM bekannten Gendarmeriegeheimdienstes, denen auch PKK-Überläufer angehörten, ermordeten politische Aktivisten.“ (Brauns/Kiechle 2010: 60). Von JITEM wurden Tausende[6] Zivilisten (Aktivisten, Intellektuelle, Journalisten, Zeitungsträger, Politiker etc.) in den 1980er und 1990er Jahren ermordet.

1989 gab es den ersten Protest der Bevölkerung, bei dem sich 2000 Menschen in Silopi gegen die Ermordung von sieben Bauern durch Kräfte der türkischen Konterguerilla versammelten. Es folgten weitere Massaker an Zivilisten in Yüksekova und Şırnak. „Doch der erhoffte Einschüchterungseffekt blieb aus. Stattdessen waren die noch auf einzelne Dörfer und Städte beschränkten Proteste die Vorboten einer kurdischen Intifada zu Beginn der 1990er Jahre.“

Die erste Phase des bewaffneten Kampfes betrachtet die PKK oft rückblickend als eine Propagandaschlacht, in der es darum ging, das Vertrauen und den Respekt des Volkes für sich zu gewinnen. Ferner sollte in dieser Periode bewiesen werden, dass die Bewegung gegen den Staat standhalten kann. Wird rückblickend die sukzessiv gestiegene Beteiligung und Akzeptanz der Bevölkerung vergegenwärtigt, dann scheint es so, als habe die PKK diese Propagandaschlacht für sich gewonnen. Für Brauns und Kiechle markiert dies die Voraussetzung und Ursache für den „qualitativen Sprung im nationalen Befreiungskampf ab 1990.“ (ebd.: 61). Die erste Bekennen der Bevölkerung zur Guerilla erfolgte, als in der Grenzstadt Nusaybin Tausende Menschen an der Trauerfeier eines der Gefallenen teilnahmen. Die Armee eröffnete das Feuer auf die Menschen, dabei starben zwei Personen und über hundert wurden verletzt.

„Doch der Serhildan (Volksaufstand) war nicht mehr zu stoppen. Auch in Cizre, Kerboran, Sirnak, Kiziltepe, Batman, Diyarbakir, Kulp, Lice, Van, Yüksekova, Digor, Bingöl, Dersim, Tatvan und Mus kam es in der Zeit um die verbotenen Newroz-Feiern zu Massenprotesten. Fahnen der ERNK und die Bilder gefallener Guerillakämpfer wurden in der Menge gezeigt und die Forderung nach Freiheit und Demokratie ertönte lautstark. Die Strategie des Staates, die PKK durch Dorfzerstörungen und Vertreibungen der Landesbevölkerung zu isolieren, war nicht aufgegangen. Stattdessen hatten die Vertriebenen den Funken des Aufstandes von den Bergen und Dörfern in die Städte getragen. Damit wurde die PKK tatsächlich zur Volksbewegung in Kurdistan.“ (ebd.)

Wie auch oben ersichtlich, legte sich in der Lektüre über die Geschichte und die Entwicklung der PKK offen, dass ihre Verankerung in der Gesellschaft durch diverse und multiple Faktoren sozialer und politischer Natur sowie bestimmte Ereignisse verwirklicht wurde. Wesentliche Ursachen sind, wie oben beschrieben, sowohl die sozioökonomische als auch die soziopolitische Situation im Südosten der Türkei bzw. in Nordkurdistan gewesen. Die Differenzen und Diskrepanzen zwischen dem Osten und dem Westen der Türkei waren den sich in den türkischen Metropolen aufhaltenden kurdischen Studierenden leicht erkenntlich. Aus zahlreichen kurdischen Organisationen ist die PKK als die zentrale politische Kraft hervorgegangen. Welche Triebkräfte sonst beförderten ihre Verankerung? In der einschlägigen Literatur herrschen zahlreiche Ansichten, welche sicherlich jede für sich je nach Position der Argumentation partielle Berichtigung beanspruchen kann. Möglicherweise liegt die Antwort im komplexen Zusammenspiel der diversen Faktoren. Sabine Skubsch stellt in ihrer Arbeit die diversen Erklärungsversuche verschiedener Autoren zusammen, die wie folgt aussehen.

Weitere Gründe für die Entwicklung der PKK hin zur kurdischen Nationalbewegung

Die Kooperation zwischen den lokalen Eliten und dem Staat führte dazu, dass die Bevölkerung nie Schutz gegen die lokale Ausbeutung und Gewalt seitens des Staates genoss. Seit dem Bestehen der Republik, der darauffolgenden Aufstände und ihrer Bekämpfung sowie der anschließenden Repression, hat die Bevölkerung stets negativ behaftete Erfahrungen mit dem Staat gemacht.

Die PKK unterscheidet sich wesentlich von den anderen und klassisch „nationalistischen“ kurdischen Organisationen dadurch, dass sie die breite Masse der Bauer und Geringverdiener, und nicht jede Schicht der kurdischen Bevölkerung in ihr Befreiungskonzept einbezog. Dagegen setzte sich die Anhängerschaft der nationalistischen kurdischen Organisationen meist nur aus Intellektuellen und Angehörigen des Kleinbürgertums zusammen. Die ideologische Haltung der PKK, Kurdistan sei durch die lokalen Eliten und den Staat kolonisiert, traf den sozioökonomischen Nerv der Massenbevölkerung. Es fehlte nur noch die konsequente Aktion gegen diesen Zustand. Die Frage der Gewalt ist dabei ein zentraler Punkt. Die PKK bekennt sich zur „revolutionären Gewalt“ und setzte diese nicht nur gegen die türkischen Sicherheitskräfte, sondern auch gegen konkurrierende Organisationen und vermeintliche oder tatsächliche „Verräter“ innerhalb der kurdischen Gesellschaft ein. Laut den Autoren darf die Gewaltfrage nicht losgelöst vom Befreiungskonzept der PKK betrachtet werden. Sie sind der Auffassung, dass vor dem Hintergrund der Assimilations- und Unterdrückungspolitik des türkischen Staates und der Herrschaft der lokalen Feudalen die Selbstermächtigung der PKK und ihr Kampf einen Wert an sich darstellen. Der Theorie Frantz Fanons folgend, argumentieren die Autoren, dass die Unterdrückten durch Anwendung von Gewalt gegen die Unterdrücker ihre Entfremdung überwinden und wieder zu sich selbst gelangen. Der türkische Soziologe Ismail Beşikçi sieht in der PKK nicht nur einen Aufstand gegen die Assimilationspolitik, sondern einen Moment der Identitätsbildung:

„In den siebziger Jahren drang die Armee in die kurdischen Dörfer ein. Mit Bajonetten wurde die ganze Dorfbevölkerung zusammengetrieben. Alte Männer wurden nackt ausgezogen. Man band ihnen ein Seil an das Geschlechtsteil. Die Frauen des Dorfes mussten die Männer herumführen. Dies ist eine gewaltige Erniedrigung. Überall auf der Welt, wo solche Erniedrigungen und Unterdrückungen erfahren wird, sollte revoltiert werden. Doch wir sehen, daß die Kurden in den siebziger Jahren nicht revoltierten. Sie sahen es als natürliches Schicksal an. Hier hat die PKK angesetzt. Sie hat gesagt: Wir akzeptieren dies nicht. Wir werden das verändern, und zu diesem Zweck verändern wir uns. Die PKK hat den erniedrigenden Status des kurdischen Volkes richtig analysiert. Der Gedanke der Revolte, des Aufstandes, kam in den achtziger Jahren mit der PKK und veränderte das geistige Klima unter der kurdischen Bevölkerung nachhaltig. Es ist das Abschütteln des akzeptierten Sklavendaseins.“ (Besikci 1991: 59, zit. nach Skubsch 2000: 139)

Für viele Kurden sei die PKK gleichbedeutend mit dem Bekennen zur kurdischen Identität. Der anfängliche Erfolg der PKK sei nicht durch ihre Programmatik - die Mehrheit der Gesellschaft war genauso wenig mit dem Marxismus vertraut wie auch mit sonstigen abstrakten Theorien und Konzepten über gesellschaftliche Verhältnisse -, sondern durch die Art und Weise wie sie in die kurdische Gesellschaft eingegriffen, sei gelungen. Ihr kämpferisches Prestige hätte sie bei der Landbevölkerung beliebt gemacht. Vor allem die Landbevölkerung sei ein stammesgesellschaftlicher sozialer Raum gewesen, in dem ein Ehrenplatz für die Rebellen gegen die Mächtigen seit jeher sicher ist.

Andere Autoren wiederum begründen den Erfolg der PKK durch die gewalttätige Reaktion und Angriffe der türkischen Armee gegen die Bevölkerung und die vielen Dorfzerstörungen. Die türkischen Autoritäten selbst hätten aufgrund der gewalttätigen Reaktion den Diskurs der PKK als den „29. kurdischen Widerstand“ legitimiert und zugelassen, dass sie die Rolle der Repräsentanz der Kurden einnahm.

Hervorzuheben ist ferner ein politisches Charakteristikum der PKK, der meiner Auffassung nach in dieser Frage entscheidend ist: Es handelt sich dabei um die Doppelstrategie der PKK, die kurdische Frage und die Transformation des Nahen Ostens um Kurdistan gleichzeitig anzugehen. Bei näherer Betrachtung wird ersichtlich, dass auch dieser Aspekt der PKK verhalf, eine gesamt-kurdische oder zumindest die stärkste und größte Organisation der Kurden zu werden. Die PKK kennzeichnet sich seit 1993 in der politischen Zielsetzung stets durch zwei miteinander verzahnte Stränge: Zum einen die Lösung der kurdischen Frage und zum anderen auch die (zunächst sozialistische, dann demokratische und gegenwärtig radikaldemokratische) Transformation der vier Nationalstaaten, in denen die Kurden leben. Bereits 1993 verkündete die PKK offiziell, das Ziel einer Staatsgründung abgelegt zu haben. Die Forderung nach Unabhängigkeit, Autonomie oder Selbstverwaltung der Kurden wurde jedoch nie in Frage gestellt. Nach ihrem fünften Parteikongress 1995 beschreibt die PKK die zweigleisige Aufgabe der Kurden im jeweils „eigenen Land“. Einerseits sollen die Schwesterorganisationen, zum Beispiel in Nordsyrien/Rojava oder Nordwestiran/Ostkurdistan, sich für die progressive Transformation des jeweiligen Landes einsetzen, also Syriens oder des Irans, zugleich aber andererseits als „Verantwortliche der nationalen Belange“ der Kurden fungieren. So ist festzustellen, dass die PKK die Lösung der kurdischen und Kurdistan Frage im jeweiligen Kontext und innerhalb der Grenzen des bestehenden Nationalstaates anstrebt. Damit verbunden ist auch eine flexible und an die jeweiligen Kontexte anpassungsfähige Strategie und Praxis der PKK festzustellen, die es ihr ermöglicht, sich in ganz Kurdistan zu etablieren. Mit dem Schwerpunkt in dem aus regionaler und demografischer Hinsicht größtem Teil Kurdistans im türkischen Staat.

Der Historiker Nikolaus Brauns zieht aus der Geschichte der PKK das folgende Resümee, durch das an dieser Stelle dieser Abschnitt abgeschlossen werden soll:

„Die PKK ist eine authentische nationale Befreiungsbewegung, die sich schwerpunktmäßig auf Lohnabhängige und Bauern sowie die Armen in den städtischen Elendsvierteln stützt, aber auch unter dem kurdischen Bürgertum und der Intelligenz über breite Sympathien verfügt. Angesichts der nicht abklingenden Verfolgung und Repression steht die von der PKK geführte Bewegung fast alternativlos als Vertretung der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. In ihr sammeln sich zwangsläufig nicht nur unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, sondern auch Vertreter unterschiedlicher politischer Konzepte von Sozialismus über Liberalismus bis Nationalismus, die mühsam unter einen Hut gebracht werden.“

Warum ist der Punkt der Entwicklung der PKK hin zu einer Volksbewegung wichtig für die vorliegende Betrachtung? Weil Umwälzungen individueller, sozialer und gesellschaftlicher Art nur dann vollzogen werden können, wenn sie von einem wesentlichen Teil der Bevölkerung angenommen und getragen werden. Sie bedürfen einer Legitimierung und Anerkennung durch die Bevölkerung, denn diese selbst ist Gegenstand der Transformation. Nur eine gesellschaftlich anerkannte, verankerte und von einem wesentlichen Teil der Bevölkerung akzeptierte, eine in diesem Sinne legitime Bewegung, ist in der Lage, Umbrüche gesellschaftlicher und identitätspolitischer Art in einem solchen Ausmaß, wie es in der kurdischen Gesellschaft geschehen ist und noch andauert, zu vollziehen. Geschlechterpolitische kulturelle Transformationen, Wandel hinsichtlich Rolle und Stellung der Frau oder neue Bedeutungen von Männlichkeit oder Weiblichkeit sind Säulen individueller und sozialer sowie gesellschaftlicher Art, die insbesondere vor dem Hintergrund der tiefverwurzelten Tradition nur schwer zu bewegen und umzuformen sind. Die kurdische Bewegung hat in einem langandauernden Prozess sukzessive eine nennenswerte Transformation vorangetrieben. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass kulturelle und soziale Wandlungsprozesse nur durch und mit der massenhaften kurdischen Bevölkerung möglich waren und sind, denn, wie gesagt, die Bevölkerung selbst ist der Gegenstand der Veränderung.


[1]    Vor dem Hintergrund der Verleugnung der kurdischen Existenz, wurden Begriffe wie Osten oder östlich als Synonyme für Kurdistan und kurdisch gebraucht.

[2]    Apoisten (türk. Apocular; kurd. Apocî) bezeichnet die Anhänger Apo‘s, eine Ableitung Öcalans Vornamen Abdullah – was im Kurdischen in etwa Onkel bedeutet.

[3]    Milliyetci Hareket Partisi; zu Deutsch „Partei der Nationalistischen Bewegung“. Eine rechtsextreme, faschistoide Partei, deren Anhänger und Mitglieder als „Graue Wölfe“ bezeichnet werden.

[4]    Der Mythos: Kawa war ein Schmied, der die Tyrannei des bösen Herrschers Dehak am 21. März beendete. Dehak ist erkrankt, sein einziges Heilmittel waren die Gehirne von Jungen. Als Kawas Söhne auch geopfert werden sollten, entschied sich dieser zum Widerstand. Kawa zündete ein Feuer auf einem Berg, um das Signal für das Erschlagen Dehaks zu geben und das Volk zu benachrichtigen. Seitdem soll Newroz, neuer Tag, in Kurdistan als der Tag des Neubeginns oder des Wiederaufblühens gefeiert werden. In der Türkei war das Fest lange Zeit verboten, bis es zu einem türkischen Fest erklärt wurde. Der Mythos wurde von kurdischen Literaten in der Neuzeit aufgegriffen; er darf im Rahmen der Nationalbildungsprozesse verstanden werden. Auch die Kurdische Bewegung nutzt ihn, um das nationale Bewusstsein unter Kurden zu erwecken und zu mobilisieren. So wurde das Newroz-Fest besonders in den 1990er Jahren politisiert und zum Fest des Widerstandes à la Dehak stilisiert.

[5]    Nach dem Vorbild der Hamidiye-Regimenter im Osmanischen Reich richtete der Staat das Dorfschützersystem gegen die PKK ein. Dabei handelt es sich um ganze Stämme und Clans, die von der Regierung ausgebildet, bezahlt, bewaffnet und paramilitärisch eingesetzt werden. Zeitweise existierten 70.000 Dorfschützer. Ihre Existenz fördert feudale Strukturen und hat gravierende Einwirkungen auf die innerkurdische Gesellschaft (Vgl. ORF 2016).

[6]    Die offiziell vom türkischen Staat genannte Zahl ist 3.500; die kurdische Seite redet von 17.000 „Verschwundenen“.


Quellen:

Amberin Zaman: One woman's journey from prisoner to mayor

Ahmet Hamdi Akkaya, Joost Jongerden: Reassembling the Political: The PKK and the project of Radical Democracy

Ahmet Hamdi Akkaya, Joost Jongerden: The Kurdistan Workers Party and a New Left in Turkey: Analyses of the revolutionary movement in Turkey through the PKK`s memorial texts on Haki Karer

Nikolaus Brauns, Brigitte Kiechle: PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und IslamSchmetterling Verlag, Stuttgart.

Handan Cagalayan: From Kawa the Blacksmith to Ishtar the Goddess: Gender Constructions in Ideological-Political Discourses of the Kurdish Movement in post-1980 Turkey. Possibilities and limits

Cenî – Kurdisches Frauenbüro für Frieden: Widerstand & Gelebte Utopien. Frauenguerilla, Frauenbefreiung und Demokratischer Konföderalismus in Kurdistan. Mesopotamien Verlag, Neuss.

Martin Dolzer: Der türkisch-kurdische Konflikt. Menschenrechte – Frieden – Demokratie in einem europäischen Land? Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn.

Jiyan: Chronologie der kurdischen Geschichte

Sabine Skubsch: Kurdische Migration und deutsche (Bildungs-) Politik. Beiträge zur Kurdologie Bd. 5. Unrast Verlag, Münster.

Lokman Turgut: Geschichte und Gegenwart der PKK in Kampf um Kobanê. Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens. Ismail Küpeli (Hg.), Edition Essamblage, Münster.

Max Weber: Die drei Typen der legitimen Herrschaft