Vorsitzender der Partei der Werktätigen
Im dritten und letzten Teil seiner Analyse der Perspektiven Abdullah Öcalans zum 12. Kongress der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) geht Hakan Öztürk, Vorsitzender der Partei der Werktätigen (EHP), auf die philosophischen, programmatischen und strategischen Tiefendimensionen des Dokuments ein. Im Zentrum steht die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis, nach der Rolle wissenschaftlicher Reflexion in politischen Bewegungen sowie nach den Bedingungen für einen tragfähigen Frieden. Öcalans Text sei, so Öztürk, kein bloßer Aufruf zum Widerstand, sondern ein Versuch, eine neue theoretische Grundlage für emanzipatorische Politik zu legen.
Theorie als Voraussetzung politischer Praxis
Ein zentrales Moment des Perspektiventextes ist laut Öztürk die Abkehr von einem verkürzten Praxisfetischismus, wie er sich auch in Teilen der Linken bis heute halte. Besonders hebt er Öcalans Aussage hervor: „Nicht alles geschieht durch Widerstand.“ „Damit greift Öcalan eine alte Debatte im Marxismus auf: Es genügt nicht, die Welt verändern zu wollen, man muss sie auch verstehen. Wer nur läuft, ohne Ziel, läuft Gefahr, in den Abgrund zu geraten.“
Diese Position sei nicht selbstverständlich. Viele würden Marx’ berühmte 11. Feuerbachthese – „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“ – falsch als Aufforderung zu blinder Praxis deuten. Doch, so Öztürk: „Wie soll Veränderung möglich sein, wenn wir die Welt nicht zuvor analysieren, deuten, reflektieren und in eine Theorie überführen?“
Öcalans Hinweis auf die Bedeutung von Sprache, Theorie und Bewusstsein sei daher ein Gegenentwurf zu einem bloß aktionistischen Politikverständnis, „Er sagt sinngemäß: ‚Das Wort wird Wirklichkeit.‘ Und genau das ist der Ansatzpunkt für eine politische Neudefinition.“
Wissen als politisches Fundament
Öcalan beschränkt sich in seinem Text nicht auf Gegenwartspolitik, sondern rekonstruiert soziale Verhältnisse historisch, etwa anhand der sumerischen Gesellschaft und der Entstehung des Patriarchats. Für Öztürk ist diese Tiefe Ausdruck eines politisch notwendigen Wissenschaftsverständnisses: „Er führt die Geschichte zurück bis zu den Sumerern, um zu zeigen, wie mit der Entstehung von Klassen auch die patriarchale Herrschaft über Frauen begann. Ohne solche Einsichten bleibt jede Frauenpolitik oberflächlich.“
Damit erweitere Öcalan das klassische marxistische Postulat, dass alle Praxis dem Politischen untergeordnet sei, um die These, dass sie zugleich dem Wissen, der Wissenschaft untergeordnet sein müsse. Nur so könne man verhindern, dass revolutionäre Bewegungen in blinden Aktivismus abgleiten. „Wir müssen uns fragen: In welche Richtung rennen wir? Wenn wir keine Klarheit darüber haben, rennen wir vielleicht geradewegs ins Leere“, betont Öztürk.
Öztürk: Öcalan denkt strukturell
Für den EHP-Vorsitzenden, der sich selbst als Sozialist versteht, ist der Perspektiventext des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan ein seltener Versuch, eine konsistente theoretische Programmatik zu formulieren. Das sei etwas, das er in der türkischen Linken oft vermisse.
„Ich kritisiere die Linke vor allem für eines: das Fehlen eines politischen Programms. Selbst einem Programm, dem ich nicht in allen Punkten zustimmen würde, stehe ich näher als einer Linie, die nur rennt, aber nicht weiß, wohin“, erklärt Öztürk.
Öcalans Text hingegen gehe über bloße Kritik hinaus: „Er analysiert Kapitalismus, Industrialismus und den Nationalstaat – und er bietet zugleich Lösungsperspektiven. Er denkt strukturell. Und das ist in der gegenwärtigen Linken selten geworden.“
Programm, Klarheit, Kreativität
Besonders betont Öztürk die Bedeutung von Kreativität in Theorie und Praxis – ein Aspekt, den Öcalan mehrfach aufgreift: „Er sagt ganz klar: Wir haben Mehl, Zucker und Öl, also lasst uns endlich Helva kochen. Damit meint er: Uns fehlt es nicht an Ressourcen, sondern an Kreativität und Koordination. Und das ist ein fairer, selbstkritischer Befund.“
Wissenschaft und Ideologiekritik: Von Gazali bis zur Gegenwart
Öcalans Kritik gehe dabei über marxistische Debatten hinaus – sie betreffe auch die intellektuelle Entwicklung in der islamischen Welt. Öztürk zitiert eine zentrale Passage aus dem Text: „Er sagt: Wie kann es sein, dass ein Fünf-Millionen-Staat wie Israel ein 300-Millionen-Machtgefüge wie die islamische Welt dominiert? Seine Antwort: Weil das Denken – spätestens seit Gazali – die Wissenschaft untergeordnet hat. Und damit auch die politische Handlungsfähigkeit.“ Öztürk beschreibt diese Aussage als „nicht nur analytisch treffend, sondern auch mutig und von globaler Relevanz“.
Realistischer Friedensbegriff und Verantwortung der Betroffenen
Zum Abschluss hebt Öztürk hervor, dass Öcalans Perspektiventext auch eine klare Vorstellung von einem möglichen Frieden entwirft, der sich jenseits romantischer oder technokratischer Modelle bewege. „Öcalan bringt eine realistische Friedensdefinition. Er sagt: Frieden ist nichts, was man leicht herstellt, und diejenigen, die den Preis des Krieges getragen haben, müssen auch den Frieden verantworten.“ Diese Haltung sei eine wichtige Mahnung an politische Akteur:innen, sich nicht hinter dritter oder neutraler Vermittlung zu verstecken: „Wer den Schmerz erlebt hat, muss am Tisch sitzen. Alles andere ist Delegation und das wird nicht halten.“ Auch die Pluralität von Interessen dürfe nicht romantisiert werden. „Öcalan sagt deutlich: Nicht alle Akteur:innen am Verhandlungstisch haben dieselben Absichten. Und das muss man anerkennen, sonst bleibt die politische Analyse blind.“