Die in der Verfassung der türkischen Republik von 1924 festgeschriebene islamische und türkische Staatsdoktrin wurde von den Kurdinnen und Kurden nicht widerstandslos hingenommen. Schon zu Zeiten des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert führte das kurdische Volk einen ständigen Kampf um Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Von Osmanen und dem Iran zugleich bedrängt, erlitt es jedoch immer wieder Niederlagen. Der am 13. Februar 1925 in Pîran unter der Führung des Geistlichen Şêx Seîd (Scheich Said) ausgebrochene Aufstand machte den Anfang zahlreicher kurdischer Rebellionen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die dem Prozess der türkischen Nationalstaatsbildung nach dem Fall des Osmanischen Reiches folgten und sich gegen die Verleugnung der kurdischen Existenz, den Entzug der politischen Autonomie und die faschistische Türkisierungspolitik richteten.
Şêx Seîd führte zu einer Zeit den ersten großen bewaffneten kurdischen Aufstand an, zu der das rassistische Paradigma „ein Staat, eine Flagge, eine Sprache, eine Nation“ und damit die Verschmelzung der Volksgruppen zu einer türkischen Nation Staatsdoktrin wurde. Şêx Seîd, ererbtes Oberhaupt des Neqşbendî-Ordens, hatte sich der Azadî-Bewegung angeschlossen, die Ende 1922 von kurdischen Deputierten, darunter auch Yusuf Ziya Beg aus dem Fürstengeschlecht von Bedlîs und Hauptmann Halit Cibran Beg in Erzîrom als „Civata Azadiya Kurd“ gegründet wurde. Der Geistliche erhielt starken Zulauf aus zahlreichen Provinzen. Am 14. Februar 1925 wurde Dara Hênî (Genç), das heute zur Provinz Çewlîg (Bingöl) gehört, zur provisorischen Hauptstadt Kurdistans erklärt. Das gesamte Gebiet westlich des Wan-Sees und der Oberläufe von Euphrat und Tigris wurde vom Aufstand gegen die Vertreter des noch jungen Zentralstaates erfasst und 35.000 uniformierte Landpolizisten vertrieben. Innerhalb eines Monates nahmen die Partisanen von Şêx Seîd etwa ein Drittel von Bakur – Nordkurdistan – ein.
Gemeinsamer Marsch zur Gedenkveranstaltung in Sûr. Die zweite von links ist die DBP-Vorsitzende Saliha Aydeniz, rechts daneben läuft Mehmet Kasım Fırat, ein Enkel von Şêx Seîd | MA
Als Şêx Seîd mit seiner Armee vor Amed (Diyarbakır) stand, gewann die türkische Armee mit Unterstützung britischer Kampfflugzeuge und französischer Einheiten die Oberhand. Die Franzosen hatten Ankara gestattet, 80.000 Soldaten mit der Eisenbahn in Nordsyrien ins „Aufstandsgebiet“ zu befördern, nachdem zwischenzeitlich Yusuf Ziya und Halit Beg in Bedlîs erhängt wurden. Die Folge waren mindestens 15.000 niedergemetzelte Zivilist:innen, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, und Hunderte dem Erdboden gleichgemachte Dörfer, die die Türken zurückließen. Ende April war der „Feind“ zum Kern des Widerstands vorgedrungen. Şêx Seîd und seine Mitstreiter, die sich zwischenzeitlich nach Dara Hênî zurückgezogen hatten, wurden auf dem Weg nach Mûş gefasst. Ein Schwager des Anführers, Kasım Ataç (genannt Qaso), der als Offizier im Osmanischen Reich gedient hatte, hatte sie verraten. Bald darauf wurden die Aufständischen nach Amed überführt, wo 53 von ihnen am 28. Juni 1925 vom „Östlichen Unabhängigkeitsgericht Diyarbakır“ zum Tod durch den Strick verurteilt wurden – wegen „Aufruhr gegen den Staat“. Noch am selben Tag begann vor der Ulu Camii in Sûr die Vollstreckung der Urteile. Şêx Seîd und 46 seiner Weggefährten wurden am nächsten Tag öffentlich exekutiert.
Aus dieser Erfahrung heraus brachte der türkische Staat noch im selben Jahr den sogenannten „Reformplan für den Osten“ (Şark Islahat Planı) auf den Weg. Massenhafte Zwangsumsiedlungen und militärisches Sonderrecht in den kurdischen Aufstandsgebieten wurden alltäglich. Über eine lange Periode wurde in Kurdistan der Ausnahmezustand ausgerufen, der den dort beauftragten Generalinspektoren weitreichende polizeistaatliche Befugnisse im Umgang mit der angestammten Bevölkerung ermöglichte. Mit dem Besiedlungsgesetz von 1934 (İskân Kanunu) wurde im Anschluss darauf unter anderem eine ethnische Durchmischung der kurdischen Gebiete mithilfe von Türkinnen und Türken und eine Umsiedlung von Kurdinnen und Kurden in andere Regionen forciert in der Absicht, die demografische Struktur der Region zu verändern. Diese Abläufe wiederholten sich: Die frühe türkische Republik zählte zwischen dem Aufstand von Şêx Seîd 1925 über die Ararat-Rebellion (1926–1930) bis Dersim-Widerstand von 1937/38 insgesamt 21 größere kurdische Erhebungen, die vom türkischen Militär blutig niedergeschlagen wurden. Der größte Teil des „Ostens“ unterstand bis 1950 dem Ausnahmerecht, bis 1964 war er für Ausländer „verbotene Zone“.
Die Polizei „begleitet“ den Demonstrationszug | MA
Aus Anlass ihres 98. Todestages wurde heute am Ort ihrer Exekution in der Altstadt von Amed Şêx Seîdê Pîran und seinen Weggefährten gedacht. Eingeladen hatte der Verein Komeleya Şêx Seîd, der von Mehmet Kasım Fırat, einem Enkel des Aufstandsanführers, gegründet wurde. Unter den Gästen waren neben weiteren Nachfahren auch Vertreterinnen und Vertreter der Parteien HDP und DBP und der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır. Fırat zog einen kurzen Umriss des Serhildana Şêx Seîdê Pîran e und würdigte seinen Großvater sowie dessen Freunde als „Kämpfer einer Sache der Menschheit“. Er erinnerte an die letzten Worte Şêx Seîds, die dieser am Galgen gesprochen haben soll: „Es macht mir nichts aus, an einem wertlosen Ast zu hängen. Ich kämpfte für meinen Glauben und mein Land. Mein einziger Wunsch ist, dass mich meine Enkel in ihrem Handeln gegenüber dem Feind nicht in Verlegenheit bringen.“ Anschließend betonte Fırat: „Unsere Verbundenheit gilt unseren Vorkämpfern und all jenen, die die Einheit wollen. Wir werden sie auch weiterhin verteidigen.”
Nahit Eren als Vorsitzender der Anwaltskammer informierte in einer kurzen Ansprache über den Stand des Verfahrens um die Preisgabe der geheimen Grabstätte von Şêx Seîd. Um jegliche Kultentwicklung zu unterbinden, ließ der türkische Staat 1925 die Leichen der Widerständigen an einem anonymen Ort verscharren. Das Massengrab hätte sich sonst zu einem mythologischen Wallfahrtsziel entwickeln können, dies galt es zu verhindern. Mehmet Kasım Fırat setzt sich seit Jahren für die Offenlegung von Informationen zu der Grabstätte ein und wird in diesem Kampf von Nahit Eren unterstützt. Doch wie schon in den ersten Tagen nach den Hinrichtungen stößt dieses Anliegen in Ankara bis heute auf taube Ohren. Handelt es sich um Kurdinnen und Kurden, wird ein respektvoller und sorgfältiger Umgang mit dem Andenken der Toten verweigert. Denn die sogenannte Aufstandsbekämpfung wirkt über den Tod des Feindes hinaus. Da ist es auch nicht von Belang, dass aufgrund der engen Verbundenheit den Angehörigen das Recht zusteht, über den Leichnam ihrer Toten zu bestimmen, die Art und den Ort der Bestattung festzulegen und sich gegen ungerechtfertigte Eingriffe in den toten Körper zur Wehr zu setzen.
Mehmet Kasım Fırat fordert Informationen zu der Stelle, an der sein Großvater begraben wurde | MA
Jahrzehnte wurde in der Türkei jegliches Auskunftsersuchen hinsichtlich der anonymen Grabstätte von Şêx Seîd und seinen Freunden von der Regierung entweder mit der Begründung abgewiesen, der Fall berühre zu schützende „Staatsgeheimnisse“, oder gar nicht erst beachtet. Vergangenen Februar hatten Nachfahren des Geistlichen einen Antrag beim türkischen Innenministerium eingereicht und die Koordinaten des Massengrabs gefordert. Das Ministerium ließ die vierwöchige Frist zur Gewährung des Informationszugangs jedoch verstreichen. Damit öffnete sich der Weg für Klagen durch alle Instanzen. Als erstes wandten sich Fırat und Eren deshalb an eine Kammer des Verwaltungsgerichts in Ankara. Diese wies den Antrag vor gut einer Woche damit zurück, dass Dokumente aus dem Staatsarchiv keine Auskünfte über die Grabstätte geben würden. Die Antragsteller weisen die Angaben als unwahr zurück und sind vor das Landesverwaltungsgericht gezogen. Eine Entscheidung steht noch aus.
Sollte auch die Beschwerde beim Landesverwaltungsgericht keinen Erfolg haben, wären die nächsten Stationen zunächst der türkische Staatsrat (Danıştay) und anschließend der Verfassungsgerichtshof. Entscheidet auch die letzte Instanz im Sinne von Ankara, wäre der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft. Dann stünde den Klägern der Gang zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zu. Das Gedenken an Şêx Seîd und seine Freunde beendete Nahit Eren mit den Worten: „Nichts kann uns von dem Weg abbringen, den wir mit Entschlossenheit bereit sind, zu gehen. Wir werden die Wahrheit erkämpfen und den Widerständigen Kurdistans eine ihnen würdige Gedenkstätte ermöglichen. Das ist unser Ideal.“