Im September 2014 erschütterte der Vormarsch der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) den Mittleren Osten und die ganze Welt. Die unter anderem mit erbeuteten Waffen aus irakischen Beständen – von mehr als zwei Dutzend Ländern, darunter Russland, China, den USA sowie aus mehreren EU-Ländern inklusive Deutschland - hochgerüstete Terrororganisation hatte nach der kampflosen Einnahme von Mossul im Nordirak und dem Genozid im ezidischen Kerngebiet Şengal ihr Augenmerk auf den Norden von Syrien, vor allem Kobanê gerichtet. Nichts schien die Islamisten zu stoppen, nachdem Raqqa überrannt und die Hälfte Syriens für das selbsternannte „Kalifat“ beansprucht wurde.
In Raqqa hatte sich der IS zudem reichlich mit russischen Waffen ausgestattet und marschierte direkt weiter auf Kobanê. Mit der Übernahme der strategisch wichtigen Region sollte eine weitere Verbindung zu den Nachschubwegen in die Türkei geöffnet und eine Vereinigung der Kantone verhindert werden. Zuletzt spielte aber auch die Symbolik eine Rolle: Die Rojava-Revolution sollte an dem Punkt erstickt werden, an dem sie ihren Anfang nahm. Denn in Kobanê war am 19. Juli 2012 die demokratische Autonomie ausgerufen worden. Durch eine friedliche Revolution konnte die Kontrolle über die Stadt gewonnen und die Verwaltung an die Bevölkerung übertragen werden.
Der Überfall auf Kobanê begann am 13. September 2014. Da die Selbstverwaltung für die Türkei den Hauptfeind darstellte und auch von den übrigen NATO-Staaten abgelehnt wurde, wurde Kobanê abgeschrieben. Vor den Augen der internationalen Gemeinschaft umzingelte die Terrormiliz die Stadt zunächst, bevor der eigentliche Angriff mit türkischer Schützenhilfe begann. Innerhalb weniger Tage wurden knapp 300 Dörfer überrannt, hunderte Menschen verloren auf bestialische Weise ihr Leben. Der Angriff löste eine riesige Fluchtwelle aus. Bis zu 300.000 Menschen sollen damals über die türkische Grenze nach Pirsûs (tr. Suruç) geflüchtet sein. Hunderte in der Stadt verbliebene Menschen leisteten erbitterten Widerstand gegen die schwer bewaffneten Islamisten.
In einer einzigartigen Solidaritätswelle gingen weltweit Millionen Menschen auf die Straßen, um Unterstützung für die Verteidigung Kobanês einzufordern. Der 1. November 2014 wurde zum Welt-Kobanê-Tag erklärt. Der türkische Staatspräsident Erdoğan inszenierte sich derweil als Schutzpatron des IS und kündigte triumphierend den Fall Kobanês an, während US-Außenminister John Kerry erklärte, so bedauerlich es sei, werde man nicht eingreifen, denn Kobanê habe keine „strategische Bedeutung“. Dann geschah etwas, das beide nicht vorausgesehen hatten: Das letzte Wort wurde von denen gesprochen, die um Kobanê kämpften. Von den Kämpferinnen und Kämpfer der YPJ und YPG, die gemeinsam mit den verbliebenen Menschen in Kobanê Widerstand leisteten, und der weltweite Protest bildeten den entscheidenden Wendepunkt.
Die internationale Anti-IS-Koalition sah sich gezwungen einzugreifen und bombardierte strategische Punkte des IS. Die YPJ und YPG befreiten die Stadt am Boden: Haus für Haus, Straße für Straße, Viertel für Viertel. Insgesamt 134 Tage wurde in Kobanê Widerstand geleistet, bis die vollständige Befreiung am 26. Januar 2015 deklariert werden konnte. Dieser Sieg gilt als erste, aber vor allem entscheidende Niederlage des IS. Tausende Mitglieder wurden bei der Befreiung der letzten zwei Stadtteile getötet. Insgesamt wird von rund 6.000 Toten des IS in Kobanê ausgegangen.
Heute droht Kobanê die Besatzung durch die Türkei. Nach vorausgegangenen Invasionen und Angriffskriegen in den Jahren 2016 (Cerablus), 2018 (Efrîn) und 2019 (Serêkaniyê und Girê Spî), in deren Verlauf weite Teile Nordsyriens vom türkischen Staat und dschihadistischen Verbündeten des Nato-Mitgliedlandes besetzt und hunderttausende Menschen zum Vorteil von islamistischen Milizen aus aller Welt vertrieben wurden, soll mit Kobanê auch die „Hauptstadt der Rojava-Revolution“ Opfer der imperialistischen Eroberungspolitik des türkischen Staates werden. In der vom Erdogan-Regime als Bodentruppe für die Besatzung Nordsyriens aufgestellte „Syrische Nationalarmee“ (SNA) befinden sich zahlreiche ehemalige IS-Mitglieder.